1
In einer Gegend des Harzes1 wohnte ein Ritter, den man gewöhnlich
nur den blonden Eckbert nannte. Er war ohngefähr vierzig
Jahr alt, kaum von mittler Größe, und kurze hellblonde
Haare lagen schlicht und dicht an seinem blassen eingefallenen
Gesichte. Er lebte sehr ruhig für sich und war niemals in
den Fehden2 seiner Nachbarn verwickelt, auch sah man ihn nur selten
außerhalb den Ringmauern3 seines kleinen Schlosses. Sein
Weib liebte die Einsamkeit ebensosehr, und beide schienen sich
von Herzen zu lieben, nur klagten sie gewöhnlich darüber,
daß der Himmel ihre Ehe mit keinen Kindern segnen wolle.
2
Nur selten wurde Eckbert von Gästen besucht, und wenn es
auch geschah, so wurde ihretwegen4 fast nichts in dem gewöhnlichen
Gange des Lebens geändert, die Mäßigkeit5 wohnte
dort, und die Sparsamkeit6 selbst schien alles anzuordnen. Eckbert
war alsdann heiter und aufgeräumt, nur wenn er allein war,
bemerkte man an ihm eine gewisse Verschlossenheit, eine stille
zurückhaltende Melancholie.
3
Niemand kam so häufig auf die Burg als Philipp Walther, ein
Mann, dem sich Eckbert angeschlossen hatte, weil er an diesem
ohngefähr dieselbe Art zu denken fand, der auch er am meisten
zugetan7 war. Dieser wohnte eigentlich in Franken8, hielt sich aber
oft über ein halbes Jahr in der Nähe von Eckberts Burg
auf, sammelte Kräuter und Steine, und beschäftigte sich
damit, sie in Ordnung zu bringen, er lebte von einem kleinen Vermögen
und war von niemand abhängig. Eckbert begleitete ihn oft
auf seinen einsamen Spaziergängen, und mit jedem Jahre entspann
sich zwischen ihnen eine innigere Freundschaft.
4
Es gibt Stunden, in denen es den Menschen ängstigt, wenn
er vor seinem Freunde ein Geheimnis haben soll, was er bis dahin
oft mit vieler Sorgfalt verborgen hat, die Seele fühlt dann
einen unwiderstehlichen Trieb, sich ganz mitzuteilen, dem Freunde
auch das Innerste aufzuschließen, damit er um so mehr unser
Freund werde. In diesen Augenblicken geben sich die zarten Seelen
einander zu erkennen, und zuweilen geschieht es wohl auch, daß
einer vor der Bekanntschaft des andern zurückschreckt.
5
Es war schon im Herbst, als Eckbert an einem neblichten Abend
mit seinem Freunde und seinem Weibe Bertha um das Feuer eines
Kamines saß. Die Flamme warf einen hellen Schein durch das
Gemach und spielte oben an der Decke, die Nacht sah schwarz zu
den Fenstern herein, und die Bäume draußen schüttelten
sich vor nasser Kälte. Walther klagte über den weiten
Rückweg, den er habe, und Eckbert schlug ihm vor, bei ihm
zu bleiben, die halbe Nacht unter traulichen Gesprächen hinzubringen,
und dann in einem Gemache des Hauses bis am Morgen zu schlafen.
Walther ging den Vorschlag ein, und nun ward Wein und die Abendmahlzeit
hereingebracht, das Feuer durch Holz vermehrt, und das Gespräch
der Freunde heitrer und vertraulicher.
6
Als das Abendessen abgetragen war, und sich die Knechte wieder
entfernt hatten, nahm Eckbert die Hand Walthers und sagte: »Freund,
Ihr solltet Euch einmal von meiner Frau die Geschichte ihrer Jugend
erzählen lassen, die seltsam genug ist.« - »Gern«,
sagte Walther, und man setzte sich wieder um den Kamin.
7
Es war jetzt gerade Mitternacht, der Mond sah abwechselnd durch
die vorüberflatternden Wolken. »Ihr müßt
mich nicht für zudringlich halten«, fing Bertha an,
»mein Mann sagt, daß Ihr so edel denkt, daß es
unrecht sei, Euch etwas zu verhehlen. Nur haltet meine Erzählung
für kein Märchen, so sonderbar sie auch klingen mag.
8
Ich bin in einem Dorfe geboren, mein Vater war ein armer Hirte.
Die Haushaltung bei meinen Eltern war nicht zum besten bestellt,
sie wußten sehr oft nicht, wo sie das Brot hernehmen sollten.
Was mich aber noch weit mehr jammerte, war, daß mein Vater
und meine Mutter sich oft über ihre Armut entzweiten, und
einer dem andern dann bittere Vorwürfe machte. Sonst hört
ich beständig von mir, daß ich ein einfältiges
dummes Kind sei, das nicht das unbedeutendste Geschäft auszurichten
wisse, und wirklich war ich äußerst ungeschickt und
unbeholfen, ich ließ alles aus den Händen fallen, ich
lernte weder nähen noch spinnen, ich konnte nichts in der
Wirtschaft helfen, nur die Not meiner Eltern verstand ich sehr
gut. Oft saß ich dann im Winkel und füllte meine Vorstellungen
damit an, wie ich ihnen helfen wollte, wenn ich plötzlich
reich würde, wie ich sie mit Gold und Silber überschütten
und mich an ihrem Erstaunen laben9 möchte, dann sah ich Geister
heraufschweben, die mir unterirdische Schätze entdeckten,
oder mir kleine Kiesel gaben, die sich in Edelsteine verwandelten,
kurz, die wunderbarsten Phantasien beschäftigten mich, und
wenn ich nun aufstehn mußte, um irgend etwas zu helfen,
oder zu tragen, so zeigte ich mich noch viel ungeschickter, weil
mir der Kopf von allen den seltsamen Vorstellungen schwindelte.
9
Mein Vater war immer sehr ergrimmt10 auf mich, daß ich eine
so ganz unnütze Last des Hauswesens11 sei, er behandelte mich
daher oft ziemlich grausam, und es war selten, daß ich ein
freundliches Wort von ihm vernahm. So war ich ungefähr acht
Jahr alt geworden, und es wurden nun ernstliche Anstalten gemacht,
daß ich etwas tun, oder lernen sollte. Mein Vater glaubte,
es wäre nur Eigensinn oder Trägheit von mir, um meine
Tage in Müßiggang hinzubringen, genug, er setzte mir
mit Drohungen unbeschreiblich zu12, da diese aber doch nichts fruchteten,
züchtigte er mich auf die grausamste Art, indem er sagte,
daß diese Strafe mit jedem Tage wiederkehren sollte, weil
ich doch nur ein unnützes Geschöpf sei.
10
Die ganze Nacht hindurch weint ich herzlich, ich fühlte mich
so außerordentlich verlassen, ich hatte ein solches Mitleid
mit mir selber, daß ich zu sterben wünschte. Ich fürchtete
den Anbruch des Tages, ich wußte durchaus nicht, was ich
anfangen sollte, ich wünschte mir alle mögliche Geschicklichkeit
und konnte gar nicht begreifen, warum ich einfältiger sei,
als die übrigen Kinder meiner Bekanntschaft. Ich war der
Verzweiflung nahe.
11
Als der Tag graute, stand ich auf und eröffnete, fast ohne
daß ich es wußte, die Tür unsrer kleinen Hütte.
Ich stand auf dem freien Felde, bald darauf war ich in einem Walde,
in den der Tag kaum noch hineinblickte. Ich lief immerfort, ohne
mich umzusehn, ich fühlte keine Müdigkeit, denn ich
glaubte immer, mein Vater würde mich noch wieder einholen,
und, durch meine Flucht gereizt, mich noch grausamer behandeln.
12
Als ich aus dem Walde wieder heraustrat, stand die Sonne schon
ziemlich hoch, ich sah jetzt etwas Dunkles vor mir liegen, welches
ein dichter Nebel bedeckte. Bald mußte ich über Hügel
klettern, bald durch einen zwischen Felsen gewundenen Weg gehn,
und ich erriet nun, daß ich mich wohl in dem benachbarten
Gebirge befinden müsse, worüber ich anfing mich in der
Einsamkeit zu fürchten. Denn ich hatte in der Ebene noch
keine Berge gesehn, und das bloße Wort Gebirge, wenn ich
davon hatte reden hören, war meinem kindischen Ohr ein fürchterlicher
Ton gewesen. Ich hatte nicht das Herz zurückzugehn, meine
Angst trieb mich vorwärts; oft sah ich mich erschrocken um,
wenn der Wind über mir weg durch die Bäume fuhr, oder
ein ferner Holzschlag13 weit durch den stillen Morgen hintönte.
Als mir Köhler14 und Bergleute endlich begegneten und ich eine
fremde Aussprache15 hörte, wäre ich vor Entsetzen fast
in Ohnmacht gesunken.
13
Ich kam durch mehrere Dörfer und bettelte, weil ich jetzt
Hunger und Durst empfand, ich half mir so ziemlich mit meinen
Antworten durch, wenn ich gefragt wurde. So war ich ohngefähr
vier Tage fortgewandert, als ich auf einen kleinen Fußsteig
geriet, der mich von der großen Straße immer mehr
entfernte. Die Felsen um mich her gewannen jetzt eine andre, weit
seltsamere Gestalt. Es waren Klippen16, so aufeinandergepackt, daß
es das Ansehn hatte, als wenn sie der erste Windstoß durcheinanderwerfen
würde. Ich wußte nicht, ob ich weitergehn sollte. Ich
hatte des Nachts immer im Walde geschlafen, denn es war gerade
zur schönsten Jahrszeit, oder in abgelegenen Schäferhütten;
hier traf ich aber gar keine menschliche Wohnung, und konnte auch
nicht vermuten, in dieser Wildnis auf eine zu stoßen; die
Felsen wurden immer furchtbarer, ich mußte oft dicht an
schwindlichten17 Abgründen vorbeigehn, und endlich hörte
sogar der Weg unter meinen Füßen auf. Ich war ganz
trostlos, ich weinte und schrie, und in den Felsentälern
hallte meine Stimme auf eine schreckliche Art zurück. Nun
brach die Nacht herein, und ich suchte mir eine Moosstelle aus,
um dort zu ruhn. Ich konnte nicht schlafen; in der Nacht hörte
ich die seltsamsten Töne, bald hielt ich es für wilde
Tiere, bald für den Wind, der durch die Felsen klage, bald
für fremde Vögel. Ich betete, und ich schlief nur spät
gegen Morgen ein.
14
Ich erwachte, als mir der Tag ins Gesicht schien. Vor mir war
ein steiler Felsen, ich kletterte in der Hoffnung hinauf, von
dort den Ausgang aus der Wildnis zu entdecken, und vielleicht
Wohnungen oder Menschen gewahr zu werden. Als ich aber oben stand,
war alles, so weit nur mein Auge reichte, ebenso, wie um mich
her, alles war mit einem neblichten Dufte überzogen, der
Tag war grau und trübe, und keinen Baum, keine Wiese, selbst
kein Gebüsch konnte mein Auge erspähn, einzelne Sträucher
ausgenommen, die einsam und betrübt in engen Felsenritzen18
emporgeschossen waren. Es ist unbeschreiblich, welche Sehnsucht
ich empfand, nur eines Menschen ansichtig zu werden, wäre
es auch, daß ich mich vor ihm hätte fürchten müssen.
Zugleich fühlte ich einen peinigenden Hunger, ich setzte
mich nieder und beschloß zu sterben. Aber nach einiger Zeit
trug die Lust zu leben dennoch den Sieg davon, ich raffte mich
auf und ging unter Tränen, unter abgebrochenen19 Seufzern den
ganzen Tag hindurch; am Ende war ich mir meiner kaum noch bewußt,
ich war müde und erschöpft, ich wünschte kaum noch
zu leben, und fürchtete doch den Tod.
15
Gegen Abend schien die Gegend umher etwas freundlicher zu werden,
meine Gedanken, meine Wünsche lebten wieder auf20, die Lust
zum Leben erwachte in allen meinen Adern. Ich glaubte jetzt das
Gesause21 einer Mühle aus der Ferne zu hören, ich verdoppelte
meine Schritte, und wie wohl, wie leicht ward mir, als ich endlich
wirklich die Grenzen der öden Felsen erreichte; ich sah Wälder
und Wiesen mit fernen angenehmen Bergen wieder vor mir liegen.
Mir war, als wenn ich aus der Hölle in ein Paradies getreten
wäre, die Einsamkeit und meine Hülflosigkeit schienen
mir nun gar nicht fürchterlich.
16
Statt der gehofften Mühle stieß ich auf einen Wasserfall,
der meine Freude freilich um vieles minderte; ich schöpfte
mit der Hand einen Trunk aus dem Bache, als mir plötzlich
war, als höre ich in einiger Entfernung ein leises Husten.
Nie bin ich so angenehm überrascht worden, als in diesem
Augenblick, ich ging näher und ward an der Ecke des Waldes
eine alte Frau gewahr, die auszuruhen schien. Sie war fast ganz
schwarz gekleidet und eine schwarze Kappe bedeckte ihren Kopf
und einen großen Teil des Gesichtes, in der Hand hielt sie
einen Krückenstock.
17
Ich näherte mich ihr und bat um ihre Hülfe; sie ließ
mich neben sich niedersetzen und gab mir Brot und etwas Wein.
Indem ich aß, sang sie mit kreischendem Ton ein geistliches
Lied. Als sie geendet hatte, sagte sie mir, ich möchte ihr
folgen.
18
Ich war über diesen Antrag sehr erfreut, so wunderlich mir
auch die Stimme und das Wesen der Alten vorkam. Mt ihrem Krückenstocke
ging sie ziemlich behende, und bei jedem Schritte verzog sie ihr
Gesicht so, daß ich im Anfange darüber lachen mußte.
Die wilden Felsen traten immer weiter hinter uns zurück,
wir gingen über eine angenehme Wiese, und dann durch einen
ziemlich langen Wald. Als wir heraustraten, ging die Sonne gerade
unter, und ich werde den Anblick und die Empfindung dieses Abends
nie vergessen. In das sanfteste Rot und Gold war alles verschmolzen,
die Bäume standen mit ihren Wipfeln in der Abendröte,
und über den Feldern lag der entzückende22 Schein, die
Wälder und die Blätter der Bäume standen still,
der reine Himmel sah aus wie ein aufgeschlossenes Paradies, und
das Rieseln der Quellen und von Zeit zu Zeit das Flüstern
der Bäume tönte durch die heitre Stille wie in wehmütiger
Freude. Meine junge Seele bekam jetzt zuerst eine Ahndung23 von
der Welt und ihren Begebenheiten. Ich vergaß mich und meine
Führerin, mein Geist und meine Augen schwärmten nur
zwischen den goldnen Wolken.
19
Wir stiegen nun einen Hügel hinan, der mit Birken bepflanzt
war, von oben sah man in ein grünes Tal voller Birken hinein,
und unten mitten in den Bäumen lag eine kleine Hütte.
Ein munteres Bellen kam uns entgegen, und bald sprang ein kleiner
behender Hund die Alte an, und wedelte24, dann kam er zu mir, besah
mich von allen Seiten, und kehrte mit freundlichen Gebärden
zur Alten zurück.
20
Als wir vom Hügel heruntergingen, hörte ich einen wunderbaren
Gesang, der aus der Hütte zu kommen schien, wie von einem
Vogel, es sang also:
Waldeinsamkeit, Die mich erfreut, So morgen wie heut In ewger Zeit, O wie mich freut Waldeinsamkeit. |
21
Diese wenigen Worte wurden beständig wiederholt; wenn ich
es beschreiben soll, so war es fast, als wenn Waldhorn und Schalmeie
ganz in der Ferne durcheinanderspielen.