Fünfter Auftritt

Claudia Galotti. Welch ein Mann! - Oh, der rauhen Tugend! - wenn anders sie diesen Namen verdienet. - Alles scheint ihr verdächtig, alles strafbar! - Oder, wenn das die Menschen kennen heißt: - wer sollte sich wünschen, sie zu kennen? - Wo bleibt aber auch Emilia? - Er ist des Vaters Feind: folglich - folglich, wenn er ein Auge für die Tochter hat, so ist es einzig, um ihn zu beschimpfen? -

 
Sechster Auftritt

Emilia und Claudia Galotti.

Emilia (stürzet in einer ängstlichen Verwirrung herein). Wohl mir! wohl mir! - Nun bin ich in Sicherheit. Oder ist er mir gar gefolgt? (Indem sie den Schleier zurückwirft und ihre Mutter erblicket.) Ist er, meine Mutter? ist er? Nein, dem Himmel sei Dank!

Claudia. Was ist dir, meine Tochter? was ist dir?

Emilia. Nichts, nichts -

Claudia. Und blickest so wild um dich? Und zitterst an jedem Gliede?

Emilia. Was hab ich hören müssen? Und wo, wo hab ich es hören müssen?

Claudia. Ich habe dich in der Kirche geglaubt -

Emilia. Eben da! Was ist dem Laster Kirch' und Altar? - Ach, meine Mutter! (Sich ihr in die Arme werfend.)

Claudia. Rede, meine Tochter! - Mach meiner Furcht ein Ende. - Was kann dir da, an heiliger Stätte, so Schlimmes begegnet sein?

Emilia. Nie hätte meine Andacht inniger, brünstiger sein sollen als heute: nie ist sie weniger gewesen, was sie sein sollte.

Claudia. Wir sind Menschen, Emilia. Die Gabe zu beten ist nicht immer in unserer Gewalt. Dem Himmel ist beten wollen auch beten.

Emilia. Und sündigen wollen auch sündigen.

Claudia. Das hat meine Emilia nicht wollen!

Emilia. Nein, meine Mutter; so tief ließ mich die Gnade nicht sinken. - Aber daß fremdes Laster uns, wider unsern Willen, zu Mitschuldigen machen kann! .

Claudia. Fasse dich! - Sammle deine Gedanken, soviel dir möglich. - Sag es mir mit eins, was dir geschehen.

Emilia. Eben hatt' ich mich - weiter von dem Altare, als ich sonst pflege - denn ich kam zu spät -, auf meine Knie gelassen. Eben fing ich an, mein Herz zu erheben: als dicht hinter mir etwas seinen Platz nahm. So dicht hinter mir! - Ich konnte weder vor noch zur Seite rücken - so gern ich auch wollte; aus Furcht, daß eines andern Andacht mich in meiner stören möchte. - Andacht! das war das Schlimmste, was ich besorgte. - Aber es währte nicht lange, so hört' ich, ganz nah an meinem Ohre - nach einem tiefen Seufzer - nicht den Namen einer Heiligen - den Namen - zürnen Sie nicht, meine Mutter - den Namen Ihrer Tochter! - Meinen Namen! - O daß laute Donner mich verhindert hätten, mehr zu hören! - Es sprach von Schönheit, von Liebe - Es klagte, daß dieser Tag, welcher mein Glück mache - wenn er es anders mache - sein Unglück auf immer entscheide. - Es beschwor mich - hören mußt' ich dies alles. Aber ich blickte nicht um; ich wollte tun, als ob ich es nicht hörte. - Was konnt' ich sonst? - Meinen guten Engel bitten, mich mit Taubheit zu schlagen; und wann auch, wenn auch auf immer! - Das bat ich; das war das einzige, was ich beten konnte. - Endlich ward es Zeit, mich wieder zu erheben. Das heilige Amt ging zu Ende. Ich zitterte, mich umzukehren. Ich zitterte, ihn zu erblicken, der sich den Frevel erlauben dürfen. Und da ich mich umwandte, da ich ihn erblickte -

Claudia. Wen, meine Tochter?

Emilia. Raten Sie, meine Mutter, raten Sie - Ich glaubte in die Erde zu sinken - Ihn selbst.

Claudia. Wen, ihn selbst?

Emilia. Den Prinzen.

Claudia. Den Prinzen! - O gesegnet sei die Ungeduld deines Vaters, der eben hier war und dich nicht erwarten wollte!

Emilia. Mein Vater hier? - und wollte mich nicht erwarten?

Claudia. Wenn du in deiner Verwirrung auch ihn das hättest hören lassen!

Emilia. Nun, meine Mutter? - Was hätt' er an mir Strafbares finden können?

Claudia. Nichts; ebensowenig als an mir. Und doch, doch - Ha, du kennest deinen Vater nicht! In seinem Zorne hätt' er den unschuldigen Gegenstand des Verbrechens mit dem Verbrecher verwechselt. In seiner Wut hätt' ich ihm geschienen, das veranlaßt zu haben, was ich weder verhindern noch vorhersehen können. - Aber weiter, meine Tochter, weiter! Als du den Prinzen erkanntest - Ich will hoffen, daß du deiner mächtig genug warest, ihm in einem Blicke alle die Verachtung zu bezeigen, die er verdienst.

Emilia. Das war ich nicht, meine Mutter! Nach dem Blicke, mit dem ich ihn erkannte, hatt' ich nicht das Herz, einen zweiten auf ihn zu richten. Ich floh -

Claudia. Und der Prinz dir nach -

Emilia. Was ich nicht wußte, bis ich in der Halle mich bei der Hand ergriffen fühlte. Und von ihm! Aus Scham mußt' ich standhalten: mich von ihm loszuwinden würde die Vorbeigehenden zu aufmerksam auf uns gemacht haben. Das war die einzige Überlegung, deren ich fähig war - oder deren ich nun mich wieder erinnere. Er sprach; und ich hab ihm geantwortet. Aber was er sprach, was ich ihm geantwortet - fällt mir es noch bei, so ist es gut, so will ich es Ihnen sagen, meine Mutter. Jetzt weiß ich von dem allen nichts. Meine Sinne hatten mich verlassen. - Umsonst denk ich nach, wie ich von ihm weg und aus der Halle gekommen. Ich finde mich erst auf der Straße wieder, und höre ihn hinter mir herkommen, und höre ihn mit mir zugleich in das Haus treten, mit mir die Treppe hinaufsteigen - -

Claudia. Die Furcht hat ihren besondern Sinn, meine Tochter! Ich werde es nie vergessen, mit welcher Gebärde du hereinstürztest. - Nein, so weit durfte er nicht wagen, dir zu folgen. - Gott! Gott! wenn dein Vater das wüßte! - Wie wild er schon war, als er nur hörte, daß der Prinz dich jüngst nicht ohne Mißfallen gesehen! - Indes, sei ruhig, meine Tochter! Nimm es für einen Traum, was dir begegnet ist. Auch wird es noch weniger Folgen haben als ein Traum. Du entgehest heute mit eins allen Nachstellungen.

Emilia. Aber, nicht, meine Mutter? Der Graf muß das wissen. Ihm muß ich es sagen.

Claudia. Um alle Welt nicht! - Wozu? warum? Willst du für nichts und wieder für nichts ihn unruhig machen? Und wann er es auch itzt nicht würde: wisse, mein Kind, daß ein Gift, welches nicht gleich wirket, darum kein minder gefährliches Gift ist. Was auf den Liebhaber keinen Eindruck macht, kann ihn auf den Gemahl machen. Den Liebhaber könnt' es sogar schmeicheln, einem so wichtigen Mitbewerber den Rang abzulaufen. Aber wenn er ihm den nun einmal abgelaufen hat: ah! mein Kind - so wird aus dem Liebhaber oft ein ganz anderes Geschöpf. Dein gutes Gestirn behüte dich vor dieser Erfahrung.

Emilia. Sie wissen, meine Mutter, wie gern ich Ihren bessern Einsichten mich in allem unterwerfe. - Aber, wenn er es von einem andern erführe, daß der Prinz mich heute gesprochen? Würde mein Verschweigen nicht, früh oder spät, seine Unruhe vermehren? - Ich dächte doch, ich behielte lieber vor ihm nichts auf dem Herzen.

Claudia. Schwachheit! verliebte Schwachheit! - Nein, durchaus nicht, meine Tochter! Sag ihm nichts. Laß ihn nichts merken!

Emilia. Nun ja, meine Mutter! Ich habe keinen Willen gegen den Ihrigen. - Aha! (Mit einem tiefen Atemzuge.) Auch wird mir wieder ganz leicht. - Was für ein albernes, furchtsames Ding ich bin! - Nicht, meine Mutter? - Ich hätte mich noch wohl anders dabei nehmen können und würde mir ebensowenig vergeben haben.

Claudia. Ich wollte dir das nicht sagen, meine Tochter, bevor dir es dein eigner gesunder Verstand sagte. Und ich wußte, er wurde dir es sagen, sobald du wieder zu dir selbst gekommen. - Der Prinz ist galant. Du bist die unbedeutende Sprache der Galanterie zu wenig gewohnt. Eine Höflichkeit wird in ihr zur Empfindung, eine Schmeichelei zur Beteurung, ein Einfall zum Wunsche, ein Wunsch zum Vorsatze. Nichts klingt in dieser Sprache wie alles, und alles ist in ihr so viel als nichts.

Emilia. O meine Mutter! - so müßte ich mir mit meiner Furcht vollends lächerlich vorkommen! - Nun soll er gewiß nichts davon erfahren, mein guter Appiani! Er könnte mich leicht für mehr eitel als tugendhaft halten. - Hui! daß er da selbst kömmt! Es ist sein Gang.

 
Siebenter Auftritt

Graf Appiani. Die Vorigen.

Appiani (tritt tiefsinnig, mit vor sich hin geschlagenen Augen herein und kömmt näher, ohne sie zu erblicken; bis Emilia ihm entgegenspringt). Ah, meine Teuerste! - Ich war mir Sie in dem Vorzimmer nicht vermutend.

Emilia. Ich wünschte Sie heiter, Herr Graf, auch wo Sie mich nicht vermuten. - So feierlich? so ernsthaft? - Ist dieser Tag keiner freudigern Aufwallung wert?

Appiani. Er ist mehr wert als mein ganzes Leben. Aber schwanger mit so viel Glückseligkeit für mich - mag es wohl diese Glückseligkeit selbst sein, die mich so ernst, die mich, wie Sie es nennen, mein Fräulein, so feierlich macht. - (Indem er die Mutter erblickt.) Ha! auch Sie hier, meine gnädige Frau! - nun bald mir mit einem innigern Namen zu verehrende!

Claudia. Der mein größter Stolz sein wird! - Wie glücklich bist du, meine Emilia! - Warum hat dein Vater unsere Entzückung nicht teilen wollen?

Appiani. Eben habe ich mich aus seinen Armen gerissen: - oder vielmehr, er sich aus meinen. - Welch ein Mann, meine Emilia, Ihr Vater! Das Muster aller männlichen Tugend! Zu was für Gesinnungen erhebt sich meine Seele in seiner Gegenwart! Nie ist mein Entschluß, immer gut, immer edel zu sein, lebendiger, als wenn ich ihn sehe - wenn ich ihn mir denke. Und womit sonst als mit der Erfüllung dieses Entschlusses kann ich mich der Ehre würdig machen, sein Sohn zu heißen - der Ihrige zu sein, meine Emilia?

Emilia. Und er wollte mich nicht erwarten!

Appiani. Ich urteile, weil ihn seine Emilia, für diesen augenblicklichen Besuch, zu sehr erschüttert, zu sehr sich seiner ganzen Seele bemächtiget hätte.

Claudia. Er glaubte dich mit deinem Brautschmucke beschäftiget zu finden und hörte -

Appiani. Was ich mit der zärtlichsten Bewunderung wieder von ihm gehört habe. - So recht, meine Emilia! Ich werde eine fromme Frau an Ihnen haben, und die nicht stolz auf ihre Frömmigkeit ist.

Claudia. Aber, meine Kinder, eines tun und das andere nicht lassen! - Nun ist es hohe Zeit; nun mach, Emilia!

Appiani. Was? meine gnädige Frau.

Claudia. Sie wollen sie doch nicht so, Herr Graf - so wie sie da ist, zum Altare führen?

Appiani. Wahrlich, das werd ich nun erst gewahr. - Wer kann Sie sehen, Emilia, und auch auf Ihren Putz achten? - Und warum nicht so, so wie sie da ist?

Emilia. Nein, mein lieber Graf, nicht so; nicht ganz so. Aber auch nicht viel prächtiger, nicht viel. - Husch, husch, und ich bin fertig! - Nichts, gar nichts von dem Geschmeide, dem letzten Geschenke Ihrer verschwenderischen Großmut! Nichts, gar nichts, was sich nur zu solchem Geschmeide schickte! - Ich könnte ihm gram sein, diesem Geschmeide, wenn es nicht von Ihnen wäre. Denn dreimal hat mir von ihm geträumt -

Claudia. Nun! davon weiß ich ja nichts.

Emilia. Als ob ich es trüge, und als ob plötzlich sich jeder Stein desselben in eine Perle verwandele. - Perlen aber, meine Mutter, Perlen bedeuten Tränen.

Claudia. Kind! - Die Bedeutung ist träumerischer als der Traum. - Warest du nicht von jeher eine größere Liebhaberin von Perlen als von Steinen? -

Emilia. Freilich, meine Mutter, freilich -

Appiani (nachdenkend und schwermütig). Bedeuten Tränen - bedeuten Tränen!

Emilia. Wie? Ihnen fällt das auf? Ihnen?

Appiani. Jawohl, ich sollte mich schämen. - Aber, wenn die Einbildungskraft einmal zu traurigen Bildern gestimmt ist -

Emilia. Warum ist sie das auch? - Und was meinen Sie, das ich mir ausgedacht habe? - Was trug ich, wie sah ich, als ich Ihnen zuerst gefiel? - Wissen Sie es noch?

Appiani. Ob ich es noch weiß? Ich sehe Sie in Gedanken nie anders als so; und sehe Sie so, auch wenn ich Sie nicht so sehe.

Emilia. Also, ein Kleid von der nämlichen Farbe, von dem nämlichen Schnitte; fliegend und frei -

Appiani. Vortrefflich!

Emilia. Und das Haar -

Appiani. In seinem eignen braunen Glanze; in Locken, wie sie die Natur schlug -

Emilia. Die Rose darin nicht zu vergessen! Recht! recht! - Eine kleine Geduld, und ich stehe so vor Ihnen da!