Friedrich Hebbel, "Vorwort zur "Maria Magdalena," betreffend das Verhältnis der dramatischen Kunst zur Zeit und verwandte Punkte (1844) (Exzept aus reclam Ausgabe, Stuttgart 1973, S. 3-29)

Definition von Drama im Kontext von Gesellschaft: "Das Drama, als die Spitze aller Kunst, soll den jedesmaligen Welt- und Menschenzustand in seinem Verhältnis zur Idee, d.h. hier zu dem alles bedingenden stittlichen Zentrum, das wir im Weltorganismus, schon seiner Selbsterhaltung wegen, annehmen müssen, veranschaulichen. Das höchste, d.h. das epochemachende . . . Drama ist nur dann möglich, wenn in diesem Zustand eine entscheidende Veränderung vor sich geht, es ist daher durchaus ein Produkt der Zeit, aber freilich nur in dem Sinne, worin eine solche Zeit selbst ein Produkt aller vorhergegangenen Zeiten ist, das verbindende Mittelglied zwischen einer Kette von jahrhunderten, die sich schließen, und einer neuen, die beginnen will." (3-4)

Nach Hebbel hat die Geschichte des Dramas erst zwei Krisen aufzuzeigen, in welchen das höchste Drama hervortreten konnte: die antike Tragödie und das Drama Shakespeares.

"Das griechische Drama entfaltete sich, als der Paganismus sich überlebt hatte, und verschlang ihn, es legte den durch ale die bunten Göttergestalten des Olymps sich hindurchziehenden Nerv der Idee bloß, oder, wenn man es will, es getsaltete das Fatum. . . . "Das Shakespeakresche Drama entwickelte sich am Protestantismus und emanzipierte das individuum. Daher die durchtbare Dialektik seiner Charaktere. . . . Nach Shakespeake hat zuerst Goethe im Faust . . . wieder zu einem großen Drama des Grundstein gelegt, und zwar hat er getan, oder vielmehr zu tun angefangen, was allein noch übrigblieb, er hat die Dialektik unmittelbar in die Idee selbst hineingeworfen, er hat den Widerspruch, den Shakespeare nur noch im Ich aufzeigt, in dem Zentrum, um das das Ich sich herumbewegt, d.h. in der diesem erfaßbaren Zeite desselben, auzuzeigen und so den Punkt, auf den die gerade wie de krumme Linie zurückzuführen schien, in zwei Hälften zu teilen gesucht" (4-5).

"Der Mensch dieses Jahrhunderts will nicht, wie man ihm Schuld gibt, neue und unerhörte Institutionen, er will nur ein besseres Fundament für die schon vorhandenen, er will, daß sie sich auf nichts als auf Sittlichkeit und Notwendigkeit, die identisch sind, stützen und also den äußeren Haken, an dem sie bis jetzt zum Teil befestigt waren, gegen den inneren Schwerpunkt, aus dem sie sich volständig ableiten lassen, vertauschen sollen." (7)

"Ich sagte: die dramatische Kunst soll den welthistorischen Prozeß, der in unseren Tagen vor sich geht und der die vorhandenen Institutionen des menschlichen geschlechts, die politischen, religiösen und sittlichen, nicht umst¨rzen, sondern tiefer begründen, sie also vor dem Umsturz sicher will, beendigen helfen" (11).

"Eine Dichtung, die sich für eine dramatische gibt, muß darstellbar sein, . . . Darstellbar ist nun nur das Handeln, nicht das Denken und Empfinden" (16).

Hebbel nennt "Maria Magdalena" ein bürgerliches Trauerspiel. Im bürgerlichen Trauespiel hänge alles davon ab, "ob der Ring der tragischen Form geschlossen, d.h. ob der Punkt erreicht wurde, wo uns einesteils nicht mehr die kümmerliche Teilnahme and dem Einzelgeschick einer von dem Dichter willkürlich aufgegriffenen Person zugemutet, sondern dies in ein allgmeinmenschliches, wenn auch nur in extremen Fällen so schneidend hervortretendes, aufgelöst wird und wo uns andernteils neben dem, von der sogenannten Versöhnungunserer Aesthetici . . . aufs strengste zu unterscheidenden Resultat des Kampfes, zugleich auch die Notwendigkeit, es gerade auf diesem und keinem anderen Wege zu erreichen, entgegentritt" (28).