Erstarrung und Dynamisierung.

Die „motorische Attitüde“ in W. G. Sebalds melancholischem Text „Max Aurach“


Sarah Dudek

 
 
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Erstarrung und Dynamasierung

Inhalt

1......... Einleitung: Weltwahrnehmung als „motorische Attitüde“
2......... Das allegorische Manchester
3......... Der Körper als Bild
4......... Schluss: Der Text als „Silberblick der Selbstbesinnung“
5.         Literatur

 

Einleitung: Weltwahrnehmung als „motorische Attitüde“

Der Erzähler erinnert sich zu Beginn von W. G. Sebalds Text „Max Aurach“, der 1992 als eine der „vier langen Erzählungen“ unter dem Titel Die Ausgewanderten veröffentlicht wurde, dass nach seiner Übersiedlung nach England und dem Bezug seines ersten Quartiers bei Mrs. Irlam die ersten Wochen und Monate in Manchester „von einer bemerkenswerten Geräuschlosigkeit und Leere“ bestimmt gewesen seien. Nur „eine sogenannte teas-maid“ (MA 227), eine Mischung aus Wecker und Teemaschine, die ihm Mrs. Irlam als „besondere Willkommensbezeigung“ (MA 226) auf sein Zimmer bringt, lässt ihn „am Leben festhalten […] damals, als ich mich, umfangen, wie ich war, von einem mir unbegreiflichen Gefühl der Unverbundenheit, sehr leicht aus dem Leben hätte entfernen können“ (MA 228). Im Text gibt es ein Foto der teas-maid und sie wird in einem für Sebalds Texte typischen verschachtelten Satz beschrieben:
Die auf einer elfenbeinfarbenen Blechkonsole aufgebaute, aus blitzendem rostfreiem Stahl gefertigte Apparatur glich, wenn beim Teekochen
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der Dampf aus ihr aufstieg, einem Miniaturkraftwerk, und das Zifferblatt der Weckeruhr phosphoreszierte, wie sich in der hereinbrechenden Dämmerung bald schon zeigte, in einem mir aus der Kindheit vertrauten stillen Lindgrün, von dem ich mich in der Nacht immer auf unerklärliche Weise behütet fühlte. (MA 227)
Dieses besondere „Verhältnis des Menschen zur Dingwelt“ ist charakteristisch für den Melancholiker. „Seiner Untreue gegen den Menschen“, schreibt Walter Benjamin in seinem Trauerspiel-Buch , „entspricht einer in kontemplativer Ergebenheit geradezu versunkenen Treue gegen diese Dinge“ (T 333): „[I]hre [der Melancholie] ausdauernde Versunkenheit nimmt die toten Dinge in ihre Kontemplation auf, um sie zu retten“ (T 334). Das Verhältnis zwischen Melancholiker und Dingwelt erscheint in der zitierten Textstelle aus „Max Aurach“ als ein reziprokes: Der Erzähler rettet die teas-maid in seinen Erinnerungsbildern – im Text wie im Foto – wie ihn die teas-maid damals behütete, indem sie ihm zum Objekt geworden ist, mit dem sich seine Geschichte, seine Vergangenheit verbinden konnte gegen sein „Gefühl der Unverbundenheit“: Die teas-maid ist dem Erzähler ein „Miniaturkraftwerk“, dessen Phosphoreszieren „in einem mir aus der Kindheit vertrauten stillen Lindgrün“ auf etwas über das Objekt Hinausgehendes verweist, auf eine Traditionslinie, die sich im Objekt materialisiert. „Jede Person, jedwedes Ding, jedes Verhältnis kann ein beliebiges anderes bedeuten“ (T 350), beschreibt Benjamin den allegorischen Charakter der Melancholie. Der lange traditionsbewusste Melancholiediskurs kann bei Benjamin als ein im Hegelschen Sinne „aufgehobener“ verstanden werden: Er findet Eingang in Benjamins Text, indem Benjamin in seinem Trauerspiel-Buch eine Traditionslinie weiter schreibt und sich gleichzeitig darüber hinwegsetzt. Melancholie erscheint bei Benjamin als ein Repräsentations­zusammenhang, der problematisch geworden ist: Der Verweisungscharakter der Objekte als Zeichen ist kein konventioneller, sondern entsteht in der Wahrnehmung des Melancholikers (T 359). Der Verweisung geht dem Melancholiker „eine leere Welt“ (T 317) voraus, die jeglicher metaphysischer oder religiöser Bedeutung entbehrt. So ist für Benjamin die Melancholie „weder der Gefühlszustand des Dichters noch des Publikums“, sondern „vielmehr ein vom empirischen Subjekt gelöstes und innig an die Fülle eines Gegenstands gebundenes Fühlen. Eine motorische Attitüde“ (T 318), eine Wahrnehmungsrelation also, die die verloren gegangenen Verbindungen zieht, um dem Subjekt einen Zugang zur Welt zu verschaffen, die für sich selbst bedeutungslos und somit unzugänglich geworden ist. Ob die Melancholie, die Schaffung der Relationen zwischen Zeichen, allerdings tatsächlich einen Zugang zur Welt ermöglicht oder der Melancholiker sich vielmehr verliert im Lesen der Welt als Text, bleibt ungeklärt. Im Gegensatz zu der metaphysischen Zeichenhaftigkeit ist die Konstruiertheit der Wahrnehmung, die eigene Herstellung der Konstellationen in der Melancholie reflektiert. Den Melancholiker bezeichnet Benjamin als „Grübler über Zeichen“ (T 370), die letztlich nur auf ihn selber zurückweisen. Somit wird die Frage, wer in Sebalds Text als Melancholiker beschrieben wird, in gewisser Weise hinfällig: Die Melancholie ist der Wahrnehmungsmodus, der dem Text eingeschrieben ist. Als Melancholiker erscheint dementsprechend sowohl auf erster Ebene der Erzähler als auch auf zweiter Ebene der durch ihn wahrgenommene Protagonist des Textes, der Maler Max Aurach.
Ein Foto unterbricht die Beschreibung der teas-maid. Das Foto erinnert an ein Stillleben und verweist auf die lange Tradition des Melancholiediskurses in der Kunstgeschichte. Die grundsätzliche Nähe der Fotografie zur Stilllebenmalerei ist vielerorts bemerkt worden. Für Benjamin können nur tote und also bewegungslose Dinge Träger allegorischer Bedeutung sein (T 343): „Wird der Gegenstand unter dem Blick der Melancholie allegorisch, läßt sie das Leben von ihm abfließen“ (T 359). Ist das Stillleben als Gemälde Bestandteil des Melancholiediskurses, insbesondere durch seine Betonung der Vergänglichkeit und seine Ästhetisierung der vormals „zuhandenen“ Gegenstände, so kann die Fotografie der teas-maid als Form der Melancholie im kapitalistischen Zeitalter verstanden werden: Die teas-maid als Massenware weist auf die Arbitrarität ihrer selbst als ästhetisches Objekt hin. Der Melancholiediskurs ist ein Bilddiskurs, wobei die Bilder durch ihren allegorischen Charakter eine Strukturähnlichkeit mit literarischen Texten aufweisen:
Die Bilder der Melancholie sind keine Abbildungen im mimetischen Sinne, sondern aufgrund ihrer diskursiven Traditionalität handelt es sich zumeist um Allegorien, die gelesen und verstanden sein wollen. In eben dieser Funktion kommt ihnen eine performative Dimension zu, die Melancholie nicht nur als Gegenstand der Darstellung, sondern als in signifikativen Ordnungen von Bildern und Texten codierte Relation entwirft.
„[D]ie Struktur der Melancholie als Bild“ wird verständlich eben durch den Allegoriecharakter, auf den Benjamins funktionaler Melancholiebegriff rekurriert. Im Gegensatz zum Symbol ist die Allegorie nicht als Signifikant-Signikat-Verhältnis zu verstehen. Vielmehr verweist ein Zeichen auf ein anderes Zeichen.
In „Max Aurach“ nehmen Bilder wie in so vielen von Sebalds Texten viel Raum ein. Interessanterweise findet sich in dem Text über den Maler Max Aurach nur eine Abbildung eines Gemäldes von dem Maler Frank Auerbach, der als Vorbild für die Figur Max Aurach in Sebalds Text fungiert. Ansonsten finden sich einunddreißig Fotografien im Text. Allerdings finden an entscheidenden Stellen Gemälde durch Ekphrasis Eingang in den Text, insbesondere Grünewalds Gemälde erhalten eine wichtige Funktion.
Der paralysierende Blick der Figuren des Textes lässt auch die Stadt Manchester zum Stillleben erstarren und macht sie als Zeichenkonfiguration lesbar: Die Gebäude Manchesters verweisen auf eine – nicht einholbare – Vergangenheit (vgl. Kapitel 2). Der Maler Max Aurach stellt einerseits die Welt still, um gegen seine Erinnerungslosigkeit – geschichtliche und kunstgeschichtliche – Traditionsbezüge zu schaffen. In Sebalds Text wird außerdem zu untersuchen sein, wie dem Maler Aurach selbst seine paralysierte Körperlichkeit zum Verweis auf die genannte kunstgeschichtliche Traditionslinie wird (vgl. Kapitel 3). Andererseits dynamisiert Aurach Bilder in seiner produktiven Imagination: sei es in Form von Erinnerungsbildern oder in Form des eigenen künstlerischen Produktionsprozesses als Maler. Die Dynamik der Zeichenzuweisung ist in Sebalds Text als poetologischer Diskurs reflektiert (vgl. den Schlussteil dieser Arbeit).
Benjamins funktionaler Melancholiebegriff stellt sich im Spannungsfeld der quasi-motorischen Übertragungsbewegung und dem melancholischen Stillstand im Bild her. Da die Melancholie immer schon ein Diskurs ist, der sich selbst reflektiert, liegt es nahe, auch eine melancholische Struktur des Textes auszumachen, wie im abschließenden Kapitel dieser Arbeit versucht werden soll. Sind die Verweisungen in „Max Aurach“ tatsächlich arbiträr und überdeterminiert? Oder sind bei Sebald die Interpretationen der Allegorien im Text so eindeutig mitgegeben, dass sie überhaupt nicht mehr als Allegorien gelesen werden können und somit zu Symbolen korrigiert werden müssten?

Das allegorische Manchester

 

Manchester ist in der Wahrnehmung des Erzählers eine menschenleere Stadt: Bei seiner Ankunft erscheint es ihm, als sei die Stadt „längst von ihren Bewohnern verlassen und nun mehr ein einziges Totenhaus oder Mausoleum“ (MA 223), „verwaist und leer wirkten noch die kolossalsten Gebäude“ (MA 231). Manchester ist dem Erzähler zum melancholisch-allegorischen Gegenstand geworden, von dem er das Leben hat „abfließen“ (T 359) lassen. Das Manchester des Erzählers ist eine im Verfallsprozess begriffene Fassadenstadt, die mit geschichtlicher Bedeutung aufgeladen wird. So werden die Fassaden zu Zeichen, die auf die „toten […] Seelen“ (MA 221) verweisen, die die Stadt in der Wahrnehmung des Erzählers bevölkern. Ein Beispiel für den Verweischarakter der Oberfläche der Stadt ist das „vormalige Judenviertel“ (MA 232). Zwar ist dieser Teil der Stadt „dem Erdboden gleichgemacht worden“, doch die „einzige leerstehende Häuserzeile“, ein „eben noch zu entziffernde[s] Schild einer Anwaltskanzlei“ (MA 232) und „die rechtwinkligen Muster der Straßen“ lassen den Erzähler darauf schließen, „daß hier einmal Tausende von Menschen ihr Leben gehabt haben“ (MA 233). Es gibt für den Erzähler keine Präsenz beim Blick auf die Gebäude Manchesters: weder im Sinne einer Gegenwärtigkeit noch im Sinne einer Vergegenwärtigung der Vergangenheit. Verwiesen wird auf etwas nicht mehr Anwesendes und niemals Erfahrenes. Die Vergangenheit ist nur durch Überreste, Ruinen und Schilder rekonstruierbar. Dass die Geschichte Manchesters zu einer einzigen Verfallsgeschichte wird, ist angesichts der melancholischen Wahrnehmung des Erzählers zwangsläufig. Benjamin charakterisiert die Weltbetrachtung in den barocken Trauerspielen, aus deren Analyse er seinen Melancholiebegriff gewinnt, folgendermaßen:
Das ist der Kern der allegorischen Weltbetrachtung, der barocken, weltlichen Exposition der Geschichte als Leidensgeschichte der Welt; bedeutend ist sie nur in den Stationen ihres Verfalls. Soviel Bedeutung, soviel Todverfallenheit (T 343).
Nach dem „Ausfall aller Eschatologie“ (T 259) in der Weltbetrachtung werde die Geschichte zwangsläufig zur Verfalls- und in diesem Sinne zur „Naturgeschichte“:
Die allegorische Physiognomie der Naturgeschichte […] ist wirklich gegenwärtig als Ruine. Mit ihr hat sinnlich die Geschichte in den Schauplatz sich verzogen. Und zwar prägt, so gestaltet, die Geschichte nicht als Prozeß eines ewigen Lebens, vielmehr als Vorgang unaufhaltsamen Verfalls sich aus. Damit bekennt die Allegorie sich jenseits von Schönheit. Allegorien sind im Reiche der Gedanken was Ruinen im Reiche der Dinge. (T 353/54)
Einzig im Verfall tut sich dem Erzähler in Sebalds „Max Aurach“ die geschichtliche Dimension auf. Die Gebäude sind Ruinen dieses Verfalls so, wie die Geschichte selbst unter dem allegorischen Blick des Melancholikers nur noch eine Ansammlung von Fragmenten der Katastrophe ist. Als so verstandene Ruinen erhalten die Gebäude einen Verweischarakter auf die – nicht erfahrene und nie zu erfahrende – Vergangenheit. So überdeutlich ist dieser Verweischarakter der unbelebten Gegenstände in Sebalds Text, dass an dieser Stelle Benjamins Begriff der Ostentation eingeführt werden soll:
Ihnen [den Trauerspielen] eignet eine gewisse Ostentation. Ihre Bilder sind gestellt, um gesehen zu werden, angeordnet, wie sie gesehen werden wollen. (T 298)
Trotz dieser überdeutlichen Ausstellung der Gegenstände als Bilder, die auf etwas anderes verweisen, gibt es kein eindeutiges Signifikat. Wagner-Egelhaaf beschreibt dieses für die Melancholie zentrale Phänomen folgendermaßen:
Die melancholische Repräsentation ist Repräsentation dessen, was sie nicht ist; daß sie repräsentiert, ist ihre, wie auch immer, produktive Leistung, was sie repräsentiert, ist Darstellung ihrer Nichtrepräsentation.
Die allegorische Wahrnehmung charakterisiert also, dass die wahrgenommenen Gegenstände für den Melancholiker zu Zeichen werden, die zwar repräsentieren, aber kein einholbares Ziel der Verweisung besitzen. Der Zeichenprozess bleibt fragmentarisch.
Ein Topos durchzieht, wie so viele von Sebalds Texten, auch und vielleicht besonders „Max Aurach“. Manchester wird als verfallene Industriemetropole als vormaliges „Industriejerusalem“ (MA 245) und „Einwandererstadt“ (MA 286) vorgestellt. So beschreibt Aurach seine Ankunft und seinen ersten Blick auf Manchester mythisch übersteigert:
Erst als diese gleichsam bengalische Illumination erlosch, konnte das Auge, sagte Aurach, ausschweifen, hinweg über die Reihe um Reihe hinter- und ineinander gestaffelten und verschobenen Häuserzeilen, über die Spinnereien und Färbereien, die Gaskessel, Chemiewerke und Fabrikationsanlagen jeder Art, bis zu der mutmaßlichen Mitte der Stadt hinauf […]. Das eindruckvollste freilich, sagte Aurach, waren die, so weit man sehen konnte, überall aus der Ebene und dem flachen Häusergewirr herausragenden Schlote. (MA 250)
Auch der Weg, den der Erzähler zu Aurachs Atelier zurücklegt, führt ihn durch die mit Bedeutung aufgeladenen Überreste einer Industriestadt:
Ich kam vorbei an einer längst außer Betrieb gesetzten Gasanstalt, an einem Kohlendepot, einer Knochenmühle und an dem, wie mir schien, endlos sich dahinziehenden gußeisernen Palisadenzaun des Schlachthofs von Ordsall. (MA 234)
Die „Gaskessel“, „Chemiewerke“, „Fabrikationsanlagen“, die „Gasanstalt“, das „Kohlendepot“, die „Knochenmühle“, der „Schlachthof“ stehen in einem Assoziationszusammenhang mit dem Holocaust. Ähnliches ließe sich auch über die häufig von Aurach angeführten Schlote Manchesters bemerken. Mit den Schloten Manchesters müssen Bilder der Schlote der Krematorien in den Vernichtungslagern assoziiert werden. Sowohl die im Text beschriebenen Erinnerungsbilder als auch die Fotos im Text verweisen also auf nicht anwesende Bilder, die im Erinnerungsdiskurs des Holocaust eine zentrale Position einnehmen. Die Engführung von Industrie und Holocaust weist auf die am prägnantesten von Adorno und Horkheimer in der 1947 erschienen Dialektik der Aufklärung formulierte These hin, dass die einseitige Betonung der instrumentellen Vernunft letztlich in Mythos, dessen Welterklärung sie ersetzt hatte, umschlagen muss, und sich somit gegen den eigenen humanistischen Impuls der Rationalität richtet. Das den Text abschließende Aufrufen des „Ghetto Litzmannstadt, das 1940 eingerichtet worden war in der polnischen Industriemetropole Lódź, die einmal polski Manczester geheißen hat“ (MA 352), bekräftigt diesen Assoziationszusammenhang. Sowohl in der Beschreibung der Schlote von Manchester (MA 250) als auch in der Beschreibung der Schlote von Lódź (MA 353) finden sich Fotos, die ein Stadtbild mit qualmenden Schloten zeigen. Die Beschreibung des Holocaust wird ersetzt durch Assoziationsbilder, die letztlich nur auf das Repräsentationsproblem des Holocaust verweisen.
Ostentativ ausgestellt im Text erscheint schließlich der Zusammenhang zwischen Manchester und dem Holocaust, der Aurachs Leben zu bestimmen scheint, in der folgenden Bemerkung, die Aurach bei dem letzten Besuch des Erzählers macht:
Größer als in jeder anderen europäischen Stadt ist das ganze letzte Jahrhundert hindurch in Manchester der deutsche und der jüdische Einfluß gewesen, und so bin ich, obwohl ich mich in die entgegengesetzte Richtung auf den Weg gemacht hatte, bei meiner Ankunft in Manchester gewissermaßen zu Hause angelangt, und mit jedem Jahr, das ich seither zugebracht habe zwischen den schwarzen Fassaden dieser Geburtsstätte unserer Industrie, ist es mir deutlicher geworden that I am here, as they used to say, to serve under the chimney. (MA 287)
Manchester ist Aurach zum Schicksalsort geworden, der ihn mit seiner Geschichte als Sohn jüdischer Eltern, die in den Vernichtungslagern ermordet worden sind, verbindet. Aurachs Unfähigkeit, sich als Subjekt der eigenen Geschichte zu bemächtigen, scheint durch seine Wahrnehmung Manchesters kompensiert zu werden. Sein Leben stellt Aurach als erneutes Durchleben des Schicksals seiner Eltern vor – „to serve under the chimney“: ein Leben im Freudschen Wiederholungszwang.
Mit größerer Distanz zur Figur Aurachs kann die Melancholie des Textes aber auf einer Metaebene auch abstrakter gelesen werden. Die tote Stadt verweist in der melancholischen Wahrnehmung auf einen geschichtlichen und geschichtsphilosophischen Bedeutungszusammenhang, der sich vor allem dadurch auszeichnet, dass er selbst jede Deutung der Geschichte unmöglich werden lässt. Der Holocaust-Diskurs kann als Akkumulation der Repräsentationsproblematik der Geschichte verstanden werden: Die Vielzahl an öffentlichen Debatten von den vierziger Jahren bis heute – Debatten um die Unmöglichkeit, den Holocaust künstlerisch darzustellen, Debatten wie dem Historikerstreit – weisen auf diese Charakteristik hin.
In Sebalds Text findet ein poetologischer Exkurs statt: Den Erzähler hindert ein „lähmende[r] Skrupulantismus“ (MA 344), „Aurach meine verkürzte Version seines Lebens zu übersenden“ (MA 345).
Dieser Skrupulantismus bezog sich sowohl auf den Gegenstand meiner Erzählung, dem ich, wie ich es auch anstellte, nicht gerecht zu werden glaubte, als auch auf die Fragwürdigkeit der Schriftstellerei überhaupt. (MA 345)
Dieses Darstellungsproblem löst sich durch die Melancholie des Textes. Auf der Oberfläche des Textes wird nichts dargestellt, es wird nichts erzählt und es wird nicht gedeutet in Bezug auf Aurachs Familiengeschichte. Der Erzähler sammelt Quellen: die Beilage der Sonntagszeitung, in dem ein Bericht über Aurach erschienen ist (MA 264ff.), Aurachs eigene Erzählungen (MA 269ff.). Der Erzähler arrangiert die Zeichen und stellt sie im Text so ostentativ aus, dass ihr Verweisungscharakter nicht zu verfehlen ist. Aber der Zusammenhang, auf den alles zu verweisen scheint, ist vor allem dadurch charakterisiert, dass er nicht verstanden werden kann:
Leer aus geht die Allegorie. Das schlechthin Böse, das als bleibende Tiefe sie hegte, existiert nur in ihr, ist einzig und allein Allegorie, bedeutet etwas anderes als es ist. Und zwar bedeutet es genau das Nichtsein dessen, was es vorstellt. (T 406)

 

 

Der Körper als Bild

Über die Fotos und Abbildungen in Sebalds Texten ist – meist unter Bezug auf Roland Barthes’, Siegfried Kracauers und Walter Benjamins Texte zur Fotografie – viel geschrieben worden. Wie aber die Fotos in die Textbewegung eingehen, welche Rolle sie im Text für den Prozess des Erinnerns spielen und inwiefern ihre Spannung zwischen Stillstand und Bewegung konstitutiv für den – melancholischen – Text ist, scheint mir bisher wenig Beachtung gefunden zu haben.
Aurachs erste Äußerung, die im Text durch den Erzähler wiedergegeben wird, stellt die Notwendigkeit der Unveränderbarkeit von Aurachs Leben in Manchester heraus:
Es sei für ihn stets von der größten Bedeutung gewesen, sagte Aurach beiläufig einmal, daß nichts an seinem Arbeitsplatz sich verändere, daß alles so bleibe, wie es vordem war, wie er es sich eingerichtet habe, wie es jetzt sei. (MA 238)
Aurach selber analysiert seine „Zurückgezogenheit“ bei der letzten Begegnung zwischen ihm und dem Erzähler als Möglichkeit, „das seelische Gleichgewicht mir zu erhalten“ (MA 285). Mit dieser Schutzfunktion geht aber auch einher, dass Aurach keinen Bezug zu seiner eigenen Geschichte hat. Aurachs Erinnerungslosigkeit erscheint als Verweigerung des Erinnerns, das ihm zu schmerzhaft ist. Aurachs Erinnerungslosigkeit korrespondiert seine Bewegungslosigkeit, die sich sowohl in seiner „Reiseangst“ (MA 252) als auch in der zwanghaften Unveränderbarkeit seines Lebens in Manchester ausdrückt.
Um zu erinnern, muss Aurachs Lebensstillstand sowohl ins Äußerste gesteigert als auch durchbrochen werden. Erinnern ist Bewegung im Sinne einer produktiven Übertragungsleistung. Aurachs melancholische Art des Erinnerns kann mit Benjamin „eine motorische Attitüde“ (T 318) genannt werden: Die (Erinnerungs-)Bilder verweisen aufeinander und bewegen auf diese Weise Aurachs „Erinnerungsstrom“ (MA 254). Dass sich das Erinnern und die melancholische Weltwahrnehmung in Sebalds Text nach dem gleichen Muster vollziehen ist kein Zufall: Beide Vorgänge sind Ordnungs- und daher Erkenntnisprozesse in einer Um- und Vorwelt, zu der der Bezug verloren gegangen ist.
Deutlich wird dies in einer zentralen Passage über Aurachs Erinnerung an seinen „Schmerzensparoxysmus“ (MA 254) in Folge eines Bandscheibenvorfalls. Ausgelöst wird der Erinnerungsstrom bei einer Reise, der einzigen Reise, die Aurach seit seiner Jugend und trotz seiner Reiseangst unternimmt:
Ich hatte seit sehr langer Zeit den Wunsch gehegt, die mir bei der Malarbeit so oft vorschwebenden Isenheimer Bilder Grünewalds und insbesondere das von der Grablegung in Wirklichkeit zu sehen. (MA 252)
Aurach fährt nach Colmar, um sich den Isenheimer Altar von Grünewald anzusehen. Den Grund für sein Interesse an Grünewald beschreibt Aurach folgendermaßen:
Die extremistische, eine jede Einzelheit durchdringende, sämtliche Glieder verrenkende und in den Farben wie eine Krankheit sich ausbreitende Weltsicht dieses seltsamen Mannes war mir, wie ich immer gewußt hatte und nun durch den Augenschein bestätigt fand, von Grund auf gemäß. Die Ungeheuerlichkeit des Leidens, das, ausgehend von den vorgeführten Gestalten, die ganze Natur überzog, um aus den erloschenen Landschaften wieder zurückzufluten in die menschlichen Todesfiguren, diese Ungeheuerlichkeit bewegte sich nun auf und nieder in mir nicht anders als die Gezeiten des Meers. (MA 253)
Grünewalds Darstellung des Leidens stellt für Aurach die Ähnlichkeit her, aufgrund der er Grünewald als ihm „von Grund auf gemäß“ betrachtet. Insbesondere die Bilder auf der ersten Schauseite des Isenheimer Altars, der sich im Musée d’Unterlinden in Colmar befindet, erregen Aurachs Interesse:
Dabei begriff ich allmählich, auf die durchbohrten Leiber schauend und auf die vor Gram wie Schilfrohr durchgebeugten Körper der Zeugen der Hinrichtung, daß an einem bestimmten Grad der Schmerz seine eigene Bedingung, das Bewußtsein, aufhebt und somit sich selbst, vielleicht – wir wissen sehr wenig darüber. Fest steht hingegen, daß das seelische Leiden praktisch unendlich ist. Wenn man glaubt, die letzte Grenze erreicht zu haben, gibt es immer noch weitere Qualen. Man fällt von Abgrund zu Abgrund. (MA 253/54)
An der ersten Schauseite des Altars faszinieren Aurach insbesondere zwei Ausdrücke des Leidens: „die durchbohrten Leiber“ und „die vor Gram wie Schilfrohr durchgebeugten Körper“. Auf einem der Standflügel des Altars findet sich das Bild des Heiligen Sebastian. Der Heilige Sebastian ist – seiner Märtyrergeschichte entsprechend – von einem Pfeil durchbohrt gemalt. Das Zentrum der ersten Schauseite des Altars wird dominiert von den in gebeugter Haltung gemalten Zeugen und Zeuginnen der Kreuzigung. In der Kreuzigungsszene selbst dominiert die nach hinten gebeugte Haltung: Die ohnmächtig nach hinten gebeugte Maria, die von Johannes gehalten werden muss, ähnelt in ihrer Haltung Maria Magdalenas nach hinten durchgebeugtem Körper. In der Szene der Grablegung, der so genannten „Beweinung Christi“, die sich auf der Predella des Altars findet, scheint sich die Beugung nach vorne umzukehren: Der Jünger Johannes beugt sich zum Körper Jesu hinunter und hebt ihn leicht an. Maria und Maria Magdalena sehen Johannes zu. Maria ist verschleiert, statt ihrer Augen sind nur ihre Tränen zu sehen. Beide Frauen sind leicht nach vorne gebeugt. Ihre Hände sind ineinander verschränkt oder gefaltet. Beide haben leicht geöffnete Münder, die zu klagen scheinen.
Der Kunsthistoriker Aby Warburg spricht in einem 1905 gehaltenen Vortrag mit dem Titel „Dürer und die italienische Antike“ vom Einfluss der Antike auf die Stilentwicklung der Frührenaissance. Dabei analysiert er eine Handzeichnung von Grünewalds Zeitgenossen Alfred Dürer aus dem Jahre 1494, den „Tod des Orpheus“. Warburg will die dionysische, die „pathetische Strömung im Einfluß der wiedererwachenden Antike“ in der Frührenaissance gegen das Griechenbild des Idealismus veranschaulichen:
Die typische pathetische Gebärdensprache der antiken Kunst, wie sie Griechenland für dieselbe tragische Szene ausgeprägt hatte, greift mithin hier unmittelbar stilbildend ein.
Warburg deutet Dürers Aufgreifen der antiken „Pathosformel“ als Suche nach einem gesteigerten Ausdruck, um sich gegen „das dekorative Pathos“, den „barocken antikischen Bewegungsmanierismus“ hinwegzusetzen. Ähnliches klingt in Warburgs Notizen zu Grünewald an, dessen Altarbild er als „kulturpsychologisches Gegenstück“ zur „dekorativen Verwässerung jener oberitalienischen Modemalerei“ auffasst. Grünewalds Körperdarstellungen sollen im Folgenden als „Pathosformeln“ des Leidens verstanden werden. Insbesondere die gebeugte Haltung der Zeugen der Kreuzigung, die Verschleierung, die Tränen und die geöffneten Münder können als Ausdruckssteigerung, als „pathetische Gebärdensprache“ verstanden werden.
Beim Anblick der Figuren in Grünewalds Altarbildern setzt für Aurach der „Erinnerungsstrom“ (MA 254) ein. Angesichts des Altarbildes entsinnt sich Aurach, wie er „vor einigen Jahren überwältigt worden war von dem mir bis dahin völlig unbekannten Schmerzensparoxysmus, den ein Bandscheibenvorfall auslösen kann“ (MA 254). Diese Lähmungserscheinung beschreibt Aurach auf zwei verschiedene Weisen, die mit den oben beschriebenen „Pathosformeln“ auf Grünewalds Altarbild in Verbindung gebracht werden können. Zunächst beschreibt er medizinisch exakt den Grund für den Bandscheibenvorfall:
Ich hatte mich bloß nach der Katze gebückt, und indem ich mich aufrichtete, riß das Gewebe und drängte sich der nucleus pulposus in die Nerven hinein. (MA 254)
Aurachs „Passion“ beginnt mit der Durchbohrung der Nerven durch den  nucleus pulposus. Die medizinische Beschreibung weist auf die – auf der vorhergehenden Seite im Text beschriebenen – „durchbohrten Leiber“ und das Bild des vom Pfeil durchbohrten Körpers des Heiligen Sebastians zurück. Aurach erinnert sich bei dessen Anblick an seinen eigenen „Schmerzensparoxysmus“, der in der Rückwendung auf den Heiligen Sebastian in eine völlig andere Wahrnehmungs- und Traditionslinie gerät als ihm „später von ärztlicher Seite geschildert worden“ (MA 254) ist. Indem dem Melancholiker alles ein – auf den Tod oder den Verfall verweisendes – Zeichen wird, widersetzt er sich „tendenziell dem Aufklärungsverlangen seiner philosophisch-ärztlichen Beschreiber“ . Aurachs melancholischem Blick wird die medizinische Beschreibung zum Verweis auf eine Bildtradition des Leidens: Die beschriebene Durchbohrung der Nerven, die ihm nur über die Medizin einsichtig ist, deutet auf die Leidensdarstellung des Heiligen Sebastian zurück. Diese Verweisungsbewegung ist reziprok, denn schließlich löst Grünewalds Altarbild Aurachs Erinnerung an seinen Bandscheibenvorfall aus.
Noch deutlicher ist der allegorische Blick von Aurach in seinem Erinnerungsprozess in der Beschreibung seiner erstarrten Körperhaltung in Folge der Lähmung, die als Ekphrasis von Aurachs Erinnerungsbild bezeichnet werden kann. Aurach verharrt in gelähmtem Zustand „äußersten Schmerzes“ in seiner „halbaufgerichteten Haltung“ (MA 254), später gelingt es ihm eine „Schottendecke über die Schultern“ zu ziehen, er presst „die Stirn gegen den feuchtmodrigen Verputz“ und steht in dieser Haltung die ganze Nacht, während ihm „die Tränen […] über das Gesicht“ rinnen und er „unsinnige Dinge zu murmeln“ beginnt (MA 255). Seine Haltung entspricht Marias Haltung in der „Beweinung Christi“ auf dem Isenheimer Altarbild: Erstarrt wie im Bild, mit der umgehängten Schottendecke gewissermaßen verschleiert, weinend, mit geöffnetem Mund in vorgebeugter Körperhaltung wird Aurach in der Beschreibung seines Erinnerungsbildes zur Pathosformel des Leidens, die verweist auf das andere – ebenso im Text nur als Ekphrasis integrierte – Bild, das Aurach zum Inbegriff des Leidens geworden ist.  Aber die Verweisung hört an dieser Stelle im Text noch nicht auf. Aurach werden die Pathosformeln in Grünewalds Altarbild nicht nur zum Hinweis auf die Pathosformeln seines eigenen körperlichen Leidens vor einigen Jahren, sondern Aurach deutet die Erinnerung auf seinen im Leiden erstarrten Körper auf seine „innere Verfassung“ hin. Aurach spürt in seiner Erstarrung, „wie der furchtbare Zustand einer vollkommenen Schmerzlähmung der inneren Verfassung, die über die Jahre die meine geworden war, auf die denkbar akkurateste Weise entsprach“ (MA 255). Der Körper wird in seinem gesteigerten Ausdruck als Pathosformel zur Entsprechung „der inneren Verfassung“: „einer vollkommenen Schmerzlähmung“. Deutlich wird an dieser Stelle, dass Aurach sich selber als allegorisches Bild liest: Nicht der eigene Ausdruck, die Bewegung von innen auf die Körperoberfläche, ist Aurachs produktiver Prozess, sondern das Lesen der eigenen Körperoberfläche und der Rückschluss auf ein Innen, zu dem es für Aurach keinen unmittelbaren Zugang gibt. Außen und Innen werden austauschbar. Dies kann analog zum Ausfall des strukturalistischen Zeichenkonzepts unter dem melancholischen Blick verstanden werden:
Mit der Verdrängung des Signifikats durch einen weiteren Signifikanten aber verliert die Allegorie die Möglichkeit des Weltbezugs und findet sich in der Sphäre reiner Sprachlichkeit wieder.

Schluss: Der Text als „Silberblick der Selbstbesinnung“

 

Paradoxerweise kann Aurach die Entsprechung seines äußeren und inneren Zustands erst in dem Moment erkennen, in dem die innere Lähmung durch den Erinnerungs- und allegorischen Leseprozess der Bilder schon durchbrochen ist. Dieses scheinbare Paradox passt mit der nächsten Übertragungsbewegung zusammen, die Aurach vollzieht. Seine eigene äußere und innere Schmerzenslähmung, ausgedrückt in seiner der Grünewaldbilder entsprechenden „krumme[n] Stellung“ (MA 255), ruft ihm
quer durch den Schmerz hindurch eine Fotografie ins Gedächtnis […], die der Vater von mir als Zweitkläßler gemacht
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hatte und die mich zeigte tief über die Schrift gebeugt. (MA 255/56)
Das Foto des über das Schreibheft gebeugten Kindes ist das erste Bild in der Textpassage, die die Reihe der Bildverweisungen enthält. Somit bekommt die Fotografie, die nur in einem Nebensatz beschrieben wird, einen besonderes Gewicht. Auch ist sie das letzte Glied in der Kette der durch die gebeugte Körperhaltung gekennzeichneten Pathosformeln. Die Konzentration des schreibenden Kindes und seine verkrampfte Haltung weist auf das Leiden zurück. Das Foto des schreibenden Kindes Aurach wird zur Synthese des Leidens und zur poetologisch-melancholischen Selbstreflexion, zum „Silberblick der Selbstbesinnung“ wie Benjamin im Trauerspiel-Buch in Bezug auf Hamlet schreibt (T 335).
Der melancholische Blick ist „ein Leseblick, da er an die Dinglichkeit der Zeichen verwiesen ist und sich nicht mehr an vorgegebenen Bedeutungen zu orientieren vermag“ . Die Vielzahl der Bilder – insbesondere seit dem sechzehnten Jahrhundert –, die die Melancholie als über Bücher gebeugte Figur darstellen, belegt die Verbindung zwischen Lesen und Melancholie. Schreiben und Lesen können wie das Erinnern als produktive Imaginationsprozesse der Zeichenzuweisung gelten, die die starre Ausgestelltheit der Zeichen bewegen. Trotzdem dominiert in der Fotografie des schreibenden Kindes die Starrheit, und die Fotografie scheint eben dadurch in die Leidenskette der Bildtradition eingereiht. Die künstlerischen Produktionsprozesse werden in „Max Aurach“ durchgehend mit einem Vokabular aus dem semantischen Feld des Leidens oder der Gewalt beschrieben. Max Aurach nimmt in seiner „Verzweiflung über seine Unfähigkeit“, in seinem Arbeiten „unter Tränen“ starke Betäubungsmittel:
[U]nd infolgedessen habe er dann die furchtbarsten, ihn an die Versuchung des heiligen Antonius auf dem Isenheimer Altarbild erinnernden Halluzinationen gehabt. (MA 260)
Aurachs Rückbezug auf das Bild des Heiligen Antonius auf einem der beiden Standflügel des Isenheimer Altars, bestätigt die vorhergehende Analyse von Aurachs melancholischer Weltwahrnehmung als Bildtradition und vervollständigt gleichzeitig im Text die erste Schauseite des Isenheimer Altars: Die beiden Heiligenbilder der Seitenflügel, das zentrale Bild der Kreuzigung und die Predella sind im Text für Aurach zu Rückbezügen seiner Weltwahrnehmung und zu Ausgangspunkten der Weltwahrwahrnehmung geworden.
Auch der Erzähler ist während seines Schreibens „von einem immer nachhaltiger sich bemerkbar machenden und mehr und mehr mich lähmenden Skrupulantismus“ (MA 344, eigene Hervorhebung) geplagt. Wie für Aurach droht auch für den Erzähler der gewaltsame Prozess der Imagination sich umzukehren. Die Aggressivität des Schaffensprozesses zeigt sich in Bezug auf den Erzähler durch das „Bleistift- und Kugelschreibergekritzel“, „das meiste davon war durchgestrichen, verworfen oder bis zur Unleserlichkeit mit Zusätzen überschmiert“ (MA 345). Gewaltsam erscheint auch Aurachs „heftiges, hingebungsvolles Zeichnen“ (MA 238), „eine einzige, nur in den Stunden der Nacht zum Stillstand kommende Staubproduktion“, wobei „aus den wenigen der Vernichtung entgangenen Linien“ die Bilder entstehen, die Aurach
wieder auslöschte, um aus dem durch die fortgesetzte Zerstörungen bereits stark beeinträchtigten Hintergrund von neuem die für ihn, wie er sagte, letztlich unbegreiflichen Gesichtszüge und Augen seines von diesem Arbeitsprozeß oft nicht wenig in Mitleidenschaft gezogenen Gegenübers herauszugraben. (MA 239)
Teilweise werden die Varianten aber auch wieder „in das Papier zurückgerieben“, „überdeckt“ bis Aurach schließlich in „einem Gefühl der Ermattung“ die Arbeit für den Tag liegen lässt. Die entstandenen Bilder werden nicht weniger grausam beschrieben:
[S]o hatte es für den Betrachter den Anschein, als sei es [das Bild] hervorgegangen aus einer langen Ahnenreihe grauer, eingeäscherter, in dem zerschundenen Papier nach wie vor herumgeisternder Gesichter. (MA 239/40)
Die Dynamisierung in der Erschaffung von Verweisungen – die in den Übermalungen und Überschreibungen lesbar ist – droht zurückzukippen in die Starre des Melancholikers. Der melancholische Blick birgt die Gefahr, das melancholische Subjekt selber zum Objekt des melancholischen Blickes erstarren zu lassen. Der allegorische Blick des Melancholikers lähmt die Welt, um sie als Zeichen lesen zu können. Der Starrheit der Bilder widersetzt sich die Ekphrasis, die nie bloße Bildbeschreibung, sondern für den Maler Aurach immer Weltzugang ist. Durch sie beschleunigt sich die Weltwahrnehmung. Letztendlich entsteht allerdings zwangsläufig ein Zirkel: Die Zeichen weisen am Schluss nur auf den Melancholiker als produktive Sinninstanz zurück. Über die Verweisungen begegnet der Blick des Melancholikers wieder sich selber und weist auf ihn selber als ein zu lähmendes Objekt der Welt. Das Leiden des Erinnernden wie des Künstlers ist die „Verzweiflung über seine Unfähigkeit“ (MA 260), das Bewusstsein, dass der Produktionsprozess nur ein „rückläufiges Unternehmen“ (MA 433) darstellt.
Der melancholische Text kann in dieser Charakteristik als Skeptizismus gegenüber jeglicher Art von Erkenntnis verstanden werden:
Die Allegorie endet nicht […] in der Gewißheit einer wie auch immer negativen Erkenntnis, sondern dementiert mittels der erneuten Dekonstruktion dieser negativen Gewißheit die Möglichkeit einer gesicherten Erkenntnis überhaupt. Als Textform potenzierter Dekonstruktion ist die Allegorie Ausdruck einer radikalen epistemologischen Aporie.
Selbst wenn in Sebalds Text die Zeichen ostentativ ausgestellt sind und ihre Interpretation – wie im zweiten Kapitel ausgeführt – schon immer mitgegeben scheint, weisen sie doch nur auf andere Bilder und Zusammenhänge, die für eben diesen Skeptizismus der Erkenntnis einstehen. Somit sind die Ruinen Manchesters keine Symbole, sondern Signifikanten, die auf andere Signifikanten verweisen. Ein Signifikat kann es im Verweisungsspiel nicht geben. Als ein solches Verweisungsspiel erschien auch Aurachs „Erinnerungsstrom“ im dritten Kapitel, der sich dem künstlerischen Prozess strukturanalog erwies. Letztlich, so scheint das vernichtende Ergebnis, geht die Melancholie, wie Benjamin schreibt, leer aus:
Das eben ist das Wesen melancholischer Versenkung, daß ihre letzten Gegenstände, in denen des Verworfnen sie am völligsten sich zu versichern glaubt, in Allegorien umschlagen, daß sie das Nichts, in dem sie sich darstellen, erfüllen und verleugnen […] Sie [in Benjamins Kontext die Laster der Tyrannen und Intriganten] sind nicht wirklich und sie haben das, als was sie dastehn, nur vor dem subjektiven Blick der Melancholie; sind dieser Blick, den seine Ausgeburten vernichten, weil sie nur seine Blindheit bedeuten. Sie weisen auf den schlechthin subjektiven Tiefsinn, als dem sie einzig ihr Bestehen verdanken.“ (T 406)
Und doch scheint dieses Ergebnis nicht völlig gerechtfertigt zu sein, wenn auch die Hoffnungslosigkeit der Sebaldschen Texte es suggeriert: Bleibt doch das Bild, der Text, die Erinnerung, die im Spiel der Verweisungen zumindest in einer seltenen Korrelation der Zeiten, die Benjamin als „Jetztzeit“ bezeichnet und in die er „Splitter der messianischen“ Zeit eingesprengt sieht , Ähnlichkeiten, Beziehungen und somit auch Sinn schaffen können in der unzugänglichen Welt der toten Zeichen. Das notwendig Fragmenthafte des allegorischen Blickes auf die Welt könnte mit Benjamin in die messianische Offenheit umgedeutet werden. Dies scheint aber in Sebalds melancholischem Text nicht angelegt zu sein. Der Text schließt mit der Ekphrasis eines Fotos, das letztlich dem Erzähler auf ihn selbst – als Betrachter des Fotos – und seinen paralysierenden Blick zurückweist: Der Zirkel ist geschlossen. 


5. Literatur

Primärliteratur
W. G. Sebald: Max Aurach. In: ders.: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen [1992]. Frankfurt/Main 2003, 217–355.
Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels[1928]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. I/1, S. 203–430.

Sekundärliteratur
Theodor W. Adorno / Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1947]. Frankfurt/Main 1969.

Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte [1940]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/Main 1990. Bd. I/2, 691–704.

Michael Kahl: Der Begriff der Allegorie in Benjamins Trauerspielbuch und im Werk Paul de Mans. In: Willem van Reijen (Hg.): Allegorie und Melancholie. Frankfurt/Main 1992
Raymond Klibansky / Erwin Panofsky / Fritz Saxl: Saturn and Melancholy. Studies in the History of Natural Philosophy Religion and Art. London 1964.
Anja K. Maier: „Der panische Halsknick“. Organisches und Anorganisches in W. G. Sebalds Prosa. In: Michael Niehaus / Claudia Öhlschläger (Hgg.): W. G. Sebalds. Politische Archäologie und melancholische Bastelei. Berlin 2006, S. 111–126.
Bettine Menke: Sprachfiguren. Name – Allegorie – Bild nach Walter Benjamin. München 1991.
Martina Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart 1997.
Aby Warburg: Flandrische Kunst und florentinische Frührenaissance. Studien [1902]. In: ebd., 372/188.

Aby Warburg: Dürer und die italienische Antike [1905]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Bibliothek Warburg. Bd. 1. Nendeln/Liechtenstein 1969, S. 443–449.


 W. G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen. Frankfurt/Main 2003, S. 226.
Im Folgenden wird für diesen Text die Sigle „MA“ verwendet werden.

Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels[1928]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. I/1, S. 203–430.
Im Folgenden wird für diesen Text die Sigle „T“ verwendet werden.

Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart 1997, insbesondere Kap. 7 im „Ersten Teil“: „Die Melancholie des Stillebens“.

Wagner-Egelhaaf, S. 11.
Nicht zufällig ist eines der Standardwerke zur Melancholie von Kunsthistorikern geschrieben worden und enthält einen umfangreichen Illustrationsteil: Raymond Klibansky, Erwin Panofsky, Fritz Saxl: Saturn and Melancholy. Studies in the History of Natural Philosophy Religion and Art. London 1964.

Wagner-Egelhaaf, S. 20.

Wagner-Egelhaaf, 529/30.

Wenig hilfreich ist hier ein Aufsatz, der in diese Richtung weist: Anja K. Maier: „Der panische Halsknick“. Organisches und Anorganisches in W. G. Sebalds Prosa. In: Michael Niehaus / Claudia Öhlschläger (Hgg.): W. G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei. Berlin 2006, S. 111–126. Kaum aussagekräftig erscheinen die Passagen, die die Textbewegung selber betrachten: Die „Gegenläufigkeit findet sich wieder in dem Verhältnis von Schrumpfung und Ausdehnung: Ein symptomatischer (Schmerz-)Punkt, in dem sich alles zu konzentrieren scheint, bringt die Ausdehnung hervor, die der Text ist, d. h. die ausschweifende und lustvolle Erzählung all dessen, das den Schmerz hervorgebracht hat und wieder hervorbringen wird.“ (116) Jeder Text ist materielle Ausdehnung, wie aber strukturiert der Schmerz die für den melancholischen Text spezifische Spannung zwischen Bewegung und Lähmung?

Ein Zeichen für Aurachs gestörtes Verhältnis zu seiner eigenen Geschichte ist seine „Einbuße oder Verschüttung der Sprache“ und „daß meine Erinnerungen nicht weiter zurückreichen als bis in mein neuntes oder achtes Jahr und daß mir auch aus der Münchner Zeit nach 1933 kaum etwas […] erinnerlich ist“ (MA 271/72).

Deutlich wird dies als er das Tagebuch seiner Mutter mit der folgenden Bemerkung dem Erzähler übergibt:
„Bei dieser zweiten Lektüre seien die stellenweise wirklich wunderbaren Aufzeichnungen ihm vorgekommen wie eines jener bösen deutschen Märchen, in denen man, einmal in den Bann geschlagen, mit einer angefangenen Arbeit, in diesem Fall also mit dem Erinnern, dem Schreiben und dem Lesen, fortfahren muß, bis einem das Herz bricht.“ (MA 289)

Aby Warburg: Dürer und die italienische Antike [1905]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Bibliothek Warburg. Bd. 1. Nendeln/Liechtenstein 1969, S. 443–449.

Ebd., S. 445.

Ebd., 446.

Ebd., 448.

Aby Warburg: Flandrische Kunst und florentinische Frührenaissance. Studien [1902]. In: ebd., 372/188.

Wagner-Egelhaaf, 22.

Michael Kahl: Der Begriff der Allegorie in Benjamins Trauerspielbuch und im Werk Paul de Mans. In: Willem van Reijen (Hg.): Allegorie und Melancholie. Frankfurt/Main 1992, 305.

Bettine Menke: Sprachfiguren. Name – Allegorie – Bild nach Walter Benjamin. München 1991, 166/70.

Vgl. den Illustrationsteil in Klibansky / Panofsky / Saxl.
Vgl. auch das Kapitel „Die Melancholie des Stillebens“ in Wagner-Egelhaaf: Das melancholische Stillleben ist häufig ein Bücherstillleben.

Kahl, 308.

Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte [1940]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/Main 1990. Bd. I/2, 691–704, Zitat 704.