University of Washington

W.G. Sebald Biography

 
 
    home
 
W.G. Sebald (1944-2001)

Ich wurde am  18. Mai 1944 in einem kleinen Dorf namens Wertach im Allgäu, nahe der österreichischen Grenze geboren. Meine Eltern tauften mich auf den Namen Winfried Georg Maximilian, welcher jedoch, soweit ich mich erinnern kann, niemals in seiner vollen Länge in Gebrauch genommen, sondern bereits in frühen Jahren auf den handlicheren und mir weitaus angemesseneren Namen Max verkürzt wurde.

Es sollte nicht lange dauern, bis ich meine nur schwer zu bändigende Neigung zum Vernetzen von Objekten jeglicher Art entdeckte, welche sich später zu einer regelrechten Obsession in meinen Büchern ausweitete. So bestand eine meiner Lieblingsbeschäftigungen darin, die sich in unserem Wohnzimmer befindlichen Möbel und Einrichtungsgegenstände mit Hilfe von Paketschnüren derart miteinander zu verketten, dass am Ende meiner Bemühungen der von mir bearbeitete Raum einem Spinnennetz ähnelte, in welchem  ich, der Schöpfer dieser labyrinth-artigen Konstruktion, in einem selbst gewählten Zentrum thronend mein Werk zufrieden übersah. Diese Leidenschaft der Verbindungserstellung wurde unwillentlich verstärkt durch meinen Volksschullehrer Paul Bereyter, welcher eine Vorliebe für die Eisenbahn und das ihr angehörige, sich weit verzweigende Schienennetz hegte. Mit der größten Umsicht zeichnete er die kompliziertesten Gleisverbindungen an die Tafel, welche wir Kinder detailgetreu in unsere Schulhefte zu kopieren hatten. Paul, wie er liebevoll von den Dorfleuten genannt wurde, war es darüber hinaus auch, der uns auf unzähligen Ausflügen und Exkursionen die heimatliche Umgebung mit ihrer Flora und Fauna näherbrachte. Diese Wanderstunden, welche regelmäßig durch das ununterbrochene Pfeifen des Pauls musikalisch untermalt wurden, sind mir einerseits noch bis auf den heutigen Tag auf das Genaueste erinnerlich, hielten mich andererseits jedoch nicht davon ab, der mir insgeheim immer schon ein wenig unheimlich erschienen Heimat später den Rücken zu kehren, ja, diese dauerhaft und unwiderruflich zu verlassen. So führte mich mein Weg zunächst zu Studienzwecken in die französischsprachige Schweiz, dann als Dozent an die Universität von Manchester, drei Jahre darauf erneut in die Schweiz, und schließlich und endlich zurück nach England, wo ich eine Stelle an der University of East Anglia in Norwich antrat.

Erinnerungen an jene Jahre habe ich mir viele bewahrt, jedoch ist vor allem mein dreijähriger Aufenthalt in Manchester tief in meinem Gedächtnis verankert. Ganz besonders muß ich dabei an jene stillen Sonntage denken, die ich einsam durch die verlassenen Straßen dieser einstmals so aufstrebenden Industriemetropole Englands wandernd verbrachte, eingehüllt in grauen, aus dem Hafen aufsteigenden Nebel und in der immer mehr dahinschwindenden Hoffnung, meiner melancholischen Stimmung durch die mir selbst verordnete Bewegung wenigstens für eine gewisse Zeit zu entgehen. Kam ich dann von meinen endlos erscheinenden Fußwanderungen erschöpft nach Hause, so verbesserte sich meine Gemütsverfassung kurzfristig durch die Gesellschaft eines so genannten teas-maid, eines Apparats, welcher sowohl Weckuhr als auch Teemaschine vorstellte, bevor ich in der Abenddämmerung erneut in eine tiefe Traurigkeit verfiel.

Dieser mir eigene Hang zur Melancholie hat mich im Grunde genommen mein Leben lang begleitet, ist entscheidend bei der Wahl meiner Forschungsgegenstände gewesen und hat ohne Zweifel die Thematik meiner späteren Bücher beeinflusst, seien es Die Ringe des Saturn oder Austerlitz. Daher hat es mich letztendlich auch niemals verwundert, dass ich mich auf eine fast magisch anmutende Weise besonders zu denjenigen Schriftstellern hingezogen fühlte, die eine mir ähnliche melancholische Disposition aufwiesen, wie dem Vicomte von Chateaubriand, Thomas Browne oder Algernon Swinburne. Womöglich war es auch wiederum die Melancholie, die mich aus der vordergründigen Leere und den bedeutungslos erscheinenden Spuren, welche die Vergangenheit auf der Erdoberfläche hinterlassen hatte, Geschichten des Grauens, des unvorstellbaren Schreckens und der gnadenlosen Zerstörung herauslesen ließ, die ich ein ums andere Mal in Schrift und Bild – als leidenschaftlicher Sammler von alten Amateurphotographien und Postkarten stand mir dabei ein geradezu unendlicher Fundus zur Verfügung - in meinen Werken dokumentierte. Von besonderem Anliegen war mir dabei die Problematik der Heimatlosigkeit aufgrund von Vertreibung, Emigration oder aufgrund eines unabänderlichen Gefühls des Ausgeschlossenseins, wie ich es selbst zuweilen meinem Vaterland gegenüber verspürte.

Trotz der Tatsache, dass ich im Laufe der Zeit als Schriftsteller einen immer größeren Bekanntheitsgrad erreichte, zahlreiche Auszeichnungen, wie den Berliner Literaturpreis und den Heinrich Böll Preis erhielt, änderte sich an meiner Lebensweise nur wenig. Ich bewohnte weiterhin das viktorianische Pfarrhaus, welches ich bereits in den 70er Jahren bezogen hatte und begab mich hin und wieder auf eine längere Reise, die ich mit Vorliebe mit der Eisenbahn und in der Absicht unternahm, bestimmte, von mir im vorhinein mit Umsicht ausgewählte Bilder in den vielen, über den Kontinent verstreuten Museen zu besichtigen. Auch die Architektur des Abendlandes beschäftigte mich in immer größerem Maße sowie die oft nur noch von wenigen erinnerten Geschichten, welche diese Gebäude und Monumente erzählten.

Obwohl ich zweifelsohne die Eisenbahn zu meinem bevorzugten Fortbewegungsmittel zählte, so war es eben nicht dieses von mir so oft benutzte Verkehrmittel, sondern das Automobil, welches mir schlußendlich zum Verhängnis wurde. Am 14. Dezember 2001 erlag ich auf einer Autofahrt einem Herzinfarkt, der mich vorzeitig dem Leben entriss und meiner schriftstellerischen Tätigkeit ein jähes Ende setzte. Meine bis zu diesem Zeitpunkt noch unvollendeten Werke müssen somit in diesem für mich unbefriedigenden Zustand verbleiben, wie auch die Beschreibung des gigantischen Trümmerhaufens, auf welchen Benjamins Engel der Geschichte in seiner unaufhaltsamen Fahrt in die Zukunft mit blanken Entsetzen zurückblickt, ohne, dass es ihm möglich wäre, die Toten zu wecken und das Zerschlagene zusammenzufügen.