Ich wurde am 18. Mai 1944 in einem kleinen Dorf namens Wertach im
Allgäu, nahe der österreichischen Grenze geboren. Meine Eltern tauften
mich auf den Namen Winfried Georg Maximilian, welcher jedoch, soweit
ich mich erinnern kann, niemals in seiner vollen Länge in Gebrauch
genommen, sondern bereits in frühen Jahren auf den handlicheren und mir
weitaus angemesseneren Namen Max verkürzt wurde.
Es
sollte nicht lange dauern, bis ich meine nur schwer zu bändigende
Neigung zum Vernetzen von Objekten jeglicher Art entdeckte, welche sich
später zu einer regelrechten Obsession in meinen Büchern ausweitete. So
bestand eine meiner Lieblingsbeschäftigungen darin, die sich in unserem
Wohnzimmer befindlichen Möbel und Einrichtungsgegenstände mit Hilfe von
Paketschnüren derart miteinander zu verketten, dass am Ende meiner
Bemühungen der von mir bearbeitete Raum einem Spinnennetz ähnelte, in
welchem ich, der Schöpfer dieser labyrinth-artigen Konstruktion,
in einem selbst gewählten Zentrum thronend mein Werk zufrieden übersah.
Diese Leidenschaft der Verbindungserstellung wurde unwillentlich
verstärkt durch meinen Volksschullehrer Paul Bereyter, welcher eine
Vorliebe für die Eisenbahn und das ihr angehörige, sich weit
verzweigende Schienennetz hegte. Mit der größten Umsicht zeichnete er
die kompliziertesten Gleisverbindungen an die Tafel, welche wir Kinder
detailgetreu in unsere Schulhefte zu kopieren hatten. Paul, wie er
liebevoll von den Dorfleuten genannt wurde, war es darüber hinaus auch,
der uns auf unzähligen Ausflügen und Exkursionen die heimatliche
Umgebung mit ihrer Flora und Fauna näherbrachte. Diese Wanderstunden,
welche regelmäßig durch das ununterbrochene Pfeifen des Pauls
musikalisch untermalt wurden, sind mir einerseits noch bis auf den
heutigen Tag auf das Genaueste erinnerlich, hielten mich andererseits
jedoch nicht davon ab, der mir insgeheim immer schon ein wenig
unheimlich erschienen Heimat später den Rücken zu kehren, ja, diese
dauerhaft und unwiderruflich zu verlassen. So führte mich mein Weg
zunächst zu Studienzwecken in die französischsprachige Schweiz, dann
als Dozent an die Universität von Manchester, drei Jahre darauf erneut
in die Schweiz, und schließlich und endlich zurück nach England, wo ich
eine Stelle an der University of East Anglia in Norwich antrat.
Erinnerungen
an jene Jahre habe ich mir viele bewahrt, jedoch ist vor allem mein
dreijähriger Aufenthalt in Manchester tief in meinem Gedächtnis
verankert. Ganz besonders muß ich dabei an jene stillen Sonntage
denken, die ich einsam durch die verlassenen Straßen dieser einstmals
so aufstrebenden Industriemetropole Englands wandernd verbrachte,
eingehüllt in grauen, aus dem Hafen aufsteigenden Nebel und in der
immer mehr dahinschwindenden Hoffnung, meiner melancholischen Stimmung
durch die mir selbst verordnete Bewegung wenigstens für eine gewisse
Zeit zu entgehen. Kam ich dann von meinen endlos erscheinenden
Fußwanderungen erschöpft nach Hause, so verbesserte sich meine
Gemütsverfassung kurzfristig durch die Gesellschaft eines so genannten
teas-maid, eines Apparats, welcher sowohl Weckuhr als auch Teemaschine
vorstellte, bevor ich in der Abenddämmerung erneut in eine tiefe
Traurigkeit verfiel.
Dieser mir eigene Hang zur
Melancholie hat mich im Grunde genommen mein Leben lang begleitet, ist
entscheidend bei der Wahl meiner Forschungsgegenstände gewesen und hat
ohne Zweifel die Thematik meiner späteren Bücher beeinflusst, seien es Die Ringe des Saturn oder Austerlitz.
Daher hat es mich letztendlich auch niemals verwundert, dass ich mich
auf eine fast magisch anmutende Weise besonders zu denjenigen
Schriftstellern hingezogen fühlte, die eine mir ähnliche melancholische
Disposition aufwiesen, wie dem Vicomte von Chateaubriand, Thomas Browne
oder Algernon Swinburne. Womöglich war es auch wiederum die
Melancholie, die mich aus der vordergründigen Leere und den
bedeutungslos erscheinenden Spuren, welche die Vergangenheit auf der
Erdoberfläche hinterlassen hatte, Geschichten des Grauens, des
unvorstellbaren Schreckens und der gnadenlosen Zerstörung herauslesen
ließ, die ich ein ums andere Mal in Schrift und Bild – als
leidenschaftlicher Sammler von alten Amateurphotographien und
Postkarten stand mir dabei ein geradezu unendlicher Fundus zur
Verfügung - in meinen Werken dokumentierte. Von besonderem Anliegen war
mir dabei die Problematik der Heimatlosigkeit aufgrund von Vertreibung,
Emigration oder aufgrund eines unabänderlichen Gefühls des
Ausgeschlossenseins, wie ich es selbst zuweilen meinem Vaterland
gegenüber verspürte.
Trotz der Tatsache, dass ich
im Laufe der Zeit als Schriftsteller einen immer größeren
Bekanntheitsgrad erreichte, zahlreiche Auszeichnungen, wie den Berliner
Literaturpreis und den Heinrich Böll Preis erhielt, änderte sich an
meiner Lebensweise nur wenig. Ich bewohnte weiterhin das viktorianische
Pfarrhaus, welches ich bereits in den 70er Jahren bezogen hatte und
begab mich hin und wieder auf eine längere Reise, die ich mit Vorliebe
mit der Eisenbahn und in der Absicht unternahm, bestimmte, von mir im
vorhinein mit Umsicht ausgewählte Bilder in den vielen, über den
Kontinent verstreuten Museen zu besichtigen. Auch die Architektur des
Abendlandes beschäftigte mich in immer größerem Maße sowie die oft nur
noch von wenigen erinnerten Geschichten, welche diese Gebäude und
Monumente erzählten.
Obwohl ich zweifelsohne die
Eisenbahn zu meinem bevorzugten Fortbewegungsmittel zählte, so war es
eben nicht dieses von mir so oft benutzte Verkehrmittel, sondern das
Automobil, welches mir schlußendlich zum Verhängnis wurde. Am 14.
Dezember 2001 erlag ich auf einer Autofahrt einem Herzinfarkt, der mich
vorzeitig dem Leben entriss und meiner schriftstellerischen Tätigkeit
ein jähes Ende setzte. Meine bis zu diesem Zeitpunkt noch unvollendeten
Werke müssen somit in diesem für mich unbefriedigenden Zustand
verbleiben, wie auch die Beschreibung des gigantischen Trümmerhaufens,
auf welchen Benjamins Engel der Geschichte in seiner unaufhaltsamen
Fahrt in die Zukunft mit blanken Entsetzen zurückblickt, ohne, dass es
ihm möglich wäre, die Toten zu wecken und das Zerschlagene
zusammenzufügen. |