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Die Leute von Seldwyla haben bewiesen, daß eine ganze Stadt
von Ungerechten oder Leichtsinnigen zur Not fortbestehen kann
im Wechsel der Zeiten und des Verkehrs; die drei Kammacher aber,
daß nicht drei Gerechte lang unter einem Dache leben können,
ohne sich in die Haare zu geraten. Es ist hier aber nicht die
himmlische Gerechtigkeit gemeint oder die natürliche Gerechtigkeit
des menschlichen Gewissens, sondern jene blutlose Gerechtigkeit,
welche aus dem Vaterunser die Bitte gestrichen hat: Und vergib
uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldnern!
weil sie keine Schulden macht und auch keine ausstehen hat; welche
niemandem zuleid lebt, aber auch niemandem zu Gefallen, wohl arbeiten
und erwerben, aber nichts ausgeben will und an der Arbeitstreue
nur einen Nutzen, aber keine Freude findet. Solche Gerechte werfen
keine Laternen ein, aber sie zünden auch keine an und kein
Licht geht von ihnen aus; sie treiben allerlei Hantierung, und
eine ist ihnen so gut wie die andere, wenn sie nur mit keiner
Fährlichkeit verbunden ist; am liebsten siedeln sie sich
dort an, wo recht viele Ungerechte in ihrem Sinne sind; denn sie
untereinander, wenn keine solche zwischen ihnen wären, würden
sich bald abreiben, wie Mühlsteine, zwischen denen kein Korn
liegt. Wenn diese ein Unglück betrifft, so sind sie höchst
verwundert und jammern, als ob sie am Spieße stäken,
da sie doch niemandem was zuleid getan haben; denn sie betrachten
die Welt als eine große wohlgesicherte Polizeianstalt, wo
keiner eine Kontraventionsbuße zu fürchten braucht,
wenn er vor seiner Türe fleißig kehrt, keine Blumentöpfe
unverwahrt vor das Fenster stellt und kein Wasser aus demselben
gießt.
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Zu Seldwyl bestand ein Kammachergeschäft, dessen Inhaber
gewohnterweise alle fünf bis sechs Jahre wechselten, obgleich
es ein gutes Geschäft war, wenn es fleißig betrieben
wurde; denn die Krämer, welche die umliegenden Jahrmärkte
besuchten, holten da ihre Kammwaren. Außer den notwendigen
Hornstriegeln aller Art wurden auch die wunderbarsten Schmuckkämme
für die Dorfschönen und Dienstmägde verfertigt
aus schönem durchsichtigem Ochsenhorn, in welches die Kunst
der Gesellen (denn die Meister arbeiteten nie) ein tüchtiges
braunrotes Schildpattgewölbe beizte, je nach ihrer Phantasie,
so daß, wenn man die Kämme gegen das Licht hielt, man
die herrlichsten Sonnenauf- und Niedergänge zu sehen glaubte,
rote Schäfchenhimmel, Gewitterstürme und andere gesprenkelte
Naturerscheinungen. Im Sommer, wenn die Gesellen gerne wanderten
und rar waren, wurden sie mit Höflichkeit behandelt und bekamen
guten Lohn und gutes Essen; im Winter aber, wenn sie ein Unterkommen
suchten und häufig zu haben waren, mußten sie sich
ducken, Kämme machen, was das Zeug halten wollte, für
geringen Lohn; die Meisterin stellte einen Tag wie den andern
eine Schüssel Sauerkraut auf den Tisch und der Meister sagte:
»Das sind Fische!« Wenn dann ein Geselle zu sagen wagte:
»Bitt um Verzeihung, es ist Sauerkraut!« so bekam er
auf der Stelle den Abschied und mußte wandern in den Winter
hinaus. Sobald aber die Wiesen grün wurden und die Wege gangbar,
sagten sie: »Es ist doch Sauerkraut!« und schnürten
ihr Bündel. Denn wenn dann auch die Meisterin auf der Stelle
einen Schinken auf das Kraut warf und der Meister sagte: »Meiner
Seel, ich glaubte, es wären Fische! Nun, dieses ist doch
gewiß ein Schinken!« so sehnten sie sich doch hinaus,
da alle drei Gesellen in einem zweispännigen Bett schlafen
mußten und sich den Winter durch herzlich satt bekamen wegen
der Rippenstöße und erfrorenen Seiten.
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Einsmals kam aber ein ordentlicher und sanfter Geselle angereist
aus irgendeinem der sächsischen Lande, der fügte sich
in alles, arbeitete wie ein Tierlein und war nicht zu vertreiben,
so daß er zuletzt ein bleibender Hausrat wurde in dem Geschäft
und mehrmals den Meister wechseln sah, da es die Jahre her gerade
etwas stürmischer herging als sonst. Jobst streckte sich
in dem Bette, so steif er konnte, und behauptete seinen Platz
zunächst der Wand Winter und Sommer; er nahm das Sauerkraut
willig für Fische und im Frühjahr mit bescheidenem Dank
ein Stückchen von dem Schinken. Den kleinern Lohn legte er
so gut zur Seite wie den größern; denn er gab nichts
aus, sondern sparte sich alles auf. Er lebte nicht wie andere
Handwerksgesellen, trank nie einen Schoppen, verkehrte mit keinem
Landsmann noch mit andern jungen Gesellen, sondern stellte sich
des Abends unter die Haustüre und schäkerte mit den
alten Weibern, hob ihnen die Wassereimer auf den Kopf, wenn er
besonders freigebiger Laune war, und ging mit den Hühnern
zu Bett, wenn nicht reichliche Arbeit da war, daß er für
besondere Rechnung die Nacht durcharbeiten konnte. Am Sonntag
arbeitete er ebenfalls bis in den Nachmittag hinein, und wenn
es das herrlichste Wetter war; man denke aber nicht, daß
er dies mit Frohsinn und Vergnügen tat, wie Johann der muntere
Seifensieder; vielmehr war er bei dieser freiwilligen Mühe
niedergeschlagen und beklagte sich fortwährend über
die Mühseligkeit des Lebens. War dann der Sonntagnachmittag
gekommen, so ging er in seinem Arbeitsschurz und in den klappernden
Pantoffeln über die Gasse und holte sich bei der Wäscherin
das frische Hemd und das geglättete Vorhemdchen, den Vatermörder
oder das bessere Schnupftuch und trug diese Herrlichkeiten auf
der flachen Hand mit elegantem Gesellenschritt vor sich her nach
Hause. Denn im Arbeitsschurz und in den Schlappschuhen beobachten
manche Gesellen immer einen eigentümlich gezierten Gang,
als ob sie in höheren Sphären schwebten, besonders die
gebildeten Buchbinder, die lustigen Schuhmacher und die seltenen
sonderbaren Kammacher. In seiner Kammer bedachte sich Jobst aber
noch wohl, ob er das Hemd oder das Vorhemdchen auch wirklich anziehen
wolle, denn er war bei aller Sanftmut und Gerechtigkeit ein kleiner
Schweinigel, oder ob es die alte Wäsche noch für eine
Woche tun müsse und er bei Hause bleiben und noch ein bißchen
arbeiten wolle. In diesem Falle setzte er sich mit einem Seufzer
über die Schwierigkeit und Mühsal der Welt von neuem
dahinter und schnitt verdrossen seine Zähne in die Kämme
oder er wandelte das Horn in Schildkrötschalen um, wobei
er aber so nüchtern und phantasielos verfuhr, daß er
immer die gleichen drei trostlosen Kleckse darauf schmierte; denn
wenn es nicht unzweifelhaft vorgeschrieben war, so wandte er nicht
die kleinste Mühe an eine Sache. Entschloß er sich
aber zu einem Spaziergang, so putzte er sich eine oder zwei Stunden
lang peinlich heraus, nahm sein Spazierstöckchen und wandelte
steif ein wenig vors Tor, wo er demütig und langweilig herumstand
und langweilige Gespräche führte mit andern Herumständern,
die auch nichts Besseres zu tun wußten, etwa alte arme Seldwyler,
welche nicht mehr ins Wirtshaus gehen konnten. Mit solchen stellte
er sich dann gern vor ein im Bau begriffenes Haus, vor ein Saatfeld,
vor einen wetterbeschädigten Apfelbaum oder vor eine neue
Zwirnfabrik und tüftelte auf das angelegentlichste über
diese Dinge, deren Zweckmäßigkeit und den Kostenpunkt,
über die Jahrshoffnungen und den Stand der Feldfrüchte,
von was allem er nicht den Teufel verstand. Es war ihm auch nicht
darum zu tun; aber die Zeit verging ihm so auf die billigste und
kurzweiligste Weise nach seiner Art und die alten Leute nannten
ihn nur den artigen und vernünftigen Sachsen, denn sie verstanden
auch nichts. Als die Seldwyler eine große Aktienbrauerei
anlegten, von der sie sich ein gewaltiges Leben versprachen, und
die weitläufigen Fundamente aus dem Boden ragten, stöckerte
er manchen Sonntagabend darin herum, mit Kennerblicken und mit
dem scheinbar lebendigsten Interesse die Fortschritte des Baues
untersuchend, wie wenn er ein alter Bauverständiger und der
größte Biertrinker wäre. »Aber nein!«
rief er ein Mal um das andere, »des is ein fameses Wergg!
des gibt eine großartigte Anstalt! Aber Geld kosten duht's,
na das Geld! Aber schade, hier mißte mir des Gewehlbe doch
en gißgen diefer sein und die Mauer um eine Idee stärger!«
Bei alledem dachte er sich gar nichts als daß er noch rechtzeitig
zum Abendessen wolle, eh es dunkel werde; denn dieses war der
einzige Tort, den er seiner Frau Meisterin antat, daß er
nie das Abendbrot versäumte am Sonntag, wie etwa die anderen
Gesellen, sondern daß sie seinetwegen allein zu Hause bleiben
oder sonstwie Bedacht auf ihn nehmen mußte. Hatte er sein
Stückchen Braten oder Wurst versorgt, so wurmisierte er noch
ein Weilchen in der Kammer herum und ging dann zu Bett; dies war
dann ein vergnügter Sonntag für ihn gewesen.
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Bei all diesem anspruchlosen, sanften und ehrbaren Wesen ging
ihm aber nicht ein leiser Zug von innerlicher Ironie ab, wie wenn
er sich heimlich über die Leichtsinnigkeit und Eitelkeit
der Welt lustig machte, und er schien die Größe und
Erheblichkeit der Dinge nicht undeutlich zu bezweifeln und sich
eines viel tieferen Gedankenplanes bewußt zu sein. In der
Tat machte er auch zuweilen ein so kluges Gesicht, besonders wenn
er die sachverständigen sonntäglichen Reden führte,
daß man ihm wohl ansah, wie er heimlich viel wichtigere
Dinge im Sinne trage, wogegen alles, was andere unternahmen, bauten
und aufrichteten, nur ein Kinderspiel wäre. Der große
Plan, welchen er Tag und Nacht mit sich herumtrug und welcher
sein stiller Leitstern war die ganzen Jahre lang, während
er in Seldwyl Geselle war, bestand darin, sich so lange seinen
Arbeitslohn aufzusparen, bis er hinreiche, eines schönen
Morgens das Geschäft, wenn es gerade vakant würde, anzukaufen
und ihn selbst zum Inhaber und Meister zu machen. Dies lag all
seinem Tun und Trachten zugrunde, da er wohl bemerkt hatte, wie
ein fleißiger und sparsamer Mann allhier wohl gedeihen müßte,
ein Mann, welcher seinen eigenen stillen Weg ginge, und von der
Sorglosigkeit der andern nur den Nutzen, aber nicht die Nachteile
zu ziehen wüßte. Wenn er aber erst Meister wäre,
dann wollte er bald so viel erworben haben, um sich auch einzubürgern,
und dann erst gedachte er so klug und zweckmäßig zu
leben wie noch nie ein Bürger in Seldwyl, sich um gar nichts
zu kümmern, was nicht seinen Wohlstand mehre, nicht einen
Deut auszugeben, aber deren so viele als möglich an sich
zu ziehen in dem leichtsinnigen Strudel dieser Stadt. Dieser Plan
war ebenso einfach als richtig und begreiflich, besonders da er
ihn auch ganz gut und ausdauernd durchführte; denn er hatte
schon ein hübsches Sümmchen zurückgelegt, welches
er sorgfältig verwahrte und sicherer Berechnung nach mit
der Zeit groß genug werden mußte zur Erreichung dieses
Zieles. Aber das Unmenschliche an diesem so stillen und friedfertigen
Plane war nur, daß Jobst ihn überhaupt gefaßt
hatte; denn nichts in seinem Herzen zwang ihn, gerade in Seldwyla
zu bleiben, weder eine Vorliebe für die Gegend noch für
die Leute, weder für die politische Verfassung dieses Landes
noch für seine Sitten. Dies alles war ihm so gleichgültig
wie seine eigene Heimat, nach welcher er sich gar nicht zurücksehnte;
an hundert Orten in der Welt konnte er sich mit seinem Fleiß
und mit seiner Gerechtigkeit ebensowohl festhalten wie hier; aber
er hatte keine freie Wahl und ergriff in seinem öden Sinne
die erste zufällige Hoffnungsfaser, die sich ihm bot, um
sich daran zu hängen und sich daran groß zu saugen.
Wo es mir wohl geht, da ist mein Vaterland! heißt es sonst
und dieses Sprichwort soll unangetastet bleiben für diejenigen,
welche auch wirklich eine bessere und notwendige Ursache ihres
Wohlergehens im neuen Vaterlande aufzuweisen haben, welche in
freiem Entschlusse in die Welt hinausgegangen, um sich rüstig
einen Vorteil zu erringen und als geborgene Leute zurückzukehren,
oder welche einem unwohnlichen Zustande in Scharen entfliehen
und, dem Zuge der Zeit gehorchend, die neue Völkerwanderung
über die Meere mitwandern; oder welche irgendwo treuere Freunde
gefunden haben als daheim oder ihren eigensten Neigungen mehr
entsprechende Verhältnisse oder durch irgendein schöneres
menschliches Band festgebunden wurden. Aber auch das neue Land
ihres Wohlergehens werden alle diese wenigstens lieben müssen,
wo sie immerhin sind, und auch da zur Not einen Menschen vorstellen.
Aber Jobst wußte kaum, wo er war; die Einrichtungen und
Gebräuche der Schweizer waren ihm unverständlich, und
er sagte bloß zuweilen: »Ja, ja, die Schweizer sind
politische Leute! Es ist gewißlich, wie ich glaube, eine
schöne Sache um die Politik, wenn man Liebhaber davon ist!
Ich für meinen Teil bin kein Kenner davon, wo ich zu Haus
bin, da ist es nicht der Brauch gewesen.« Die Sitten der
Seldwyler waren ihm zuwider und machten ihn ängstlich, und
wenn sie einen Tumult oder Zug vorhatten, hockte er zitternd zuhinterst
in der Werkstatt und fürchtete Mord und Totschlag. Und dennoch
war es sein einziges Denken und sein großes Geheimnis, hier
zu bleiben bis an das Ende seiner Tage. Auf alle Punkte der Erde
sind solche Gerechte hingestreut, die aus keinem andern Grunde
sich dahin verkrümmelten als weil sie zufällig an ein
Saugeröhrchen des guten Auskommens gerieten, und sie saugen
still daran ohne Heimweh nach dem alten, ohne Liebe zu dem neuen
Lande, ohne einen Blick in die Weite und ohne einen für die
Nähe, und gleichen daher weniger dem freien Menschen als
jenen niederen Organismen, wunderlichen Tierchen und Pflanzensamen,
die durch Luft und Wasser an die zufällige Stätte ihres
Gedeihens getragen worden.