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So lebte er ein Jährchen um das andere in Seldwyla und äufnete
seinen heimlichen Schatz, welchen er unter einer Fliese seines
Kammerbodens vergraben hielt. Noch konnte sich kein Schneider
rühmen, einen Batzen an ihm verdient zu haben, denn noch
war der Sonntagsrock, mit dem er angereist, im gleichen Zustande
wie damals. Noch hatte kein Schuster einen Pfennig von ihm gelöst,
denn noch waren nicht einmal die Stiefelsohlen durchgelaufen,
die bei seiner Ankunft das Äußere seines Felleisens
geziert; denn das Jahr hat nur zweiundfünfzig Sonntage, und
von diesen wurde nur die Hälfte zu einem kleinen Spaziergange
verwandt. Niemand konnte sich rühmen, je ein kleines oder
großes Stück Geld in seiner Hand gesehen zu haben;
denn wenn er seinen Lohn empfing, verschwand dieser auf der Stelle
auf die geheimnisvollste Weise, und selbst wenn er vor das Tor
ging, steckte er nicht einen Deut zu sich, so daß es ihm
gar nicht möglich war etwas auszugeben. Wenn Weiber mit Kirschen,
Pflaumen oder Birnen in die Werkstatt kamen und die anderen Arbeiter
ihre Gelüste befriedigten, hatte er auch tausend und ein
Gelüste, welche er dadurch zu beruhigen wußte, daß
er mit der größten Aufmerksamkeit die Verhandlung mit
führte, die hübschen Kirschen und Pflaumen streichelte
und betastete und zuletzt die Weiber, welche ihn für den
eifrigsten Käufer genommen, verblüfft abziehen ließ,
sich seiner Enthaltsamkeit freuend; und mit zufriedenem Vergnügen,
mit tausend kleinen Ratschlägen, wie sie die gekauften Äpfel
braten oder schälen sollten, sah er seine Mitgesellen essen.
Aber sowenig jemand eine Münze von ihm zu besehen kriegte,
ebensowenig erhielt jemand von ihm je ein barsches Wort, eine
unbillige Zumutung oder ein schiefes Gesicht; er wich vielmehr
allen Händeln auf das sorgfältigste aus und nahm keinen
Scherz übel, den man sich mit ihm erlaubte; und so neugierig
er war, den Verlauf von allerlei Klatschereien und Streitigkeiten
zu betrachten und zu beurteilen, da solche jederzeit einen kostenfreien
Zeitvertreib gewährten, während andere Gesellen ihren
rohen Gelagen nachgingen, so hütete er sich wohl, sich in
etwas zu mischen und über einer Unvorsichtigkeit betreffen
zu lassen. Kurz, er war die merkwürdigste Mischung von wahrhaft
heroischer Weisheit und Ausdauer und von sanfter schnöder
Herz- und Gefühllosigkeit.
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Einst war er schon seit vielen Wochen der einzige Geselle in dem
Geschäft und es ging ihm so wohl in dieser Ungestörtheit
wie einem Fisch im Wasser. Besonders des Nachts freute er sich
des breiten Raumes im Bette und benutzte sehr ökonomisch
diese schöne Zeit, sich für die kommenden Tage zu entschädigen
und seine Person gleichsam zu verdreifachen, indem er unaufhörlich
die Lage wechselte und sich vorstellte, als ob drei zumal im Bette
lägen, von denen zwei den Dritten ersuchten, sich doch nicht
zu genieren und es sich bequem zu machen. Dieser Dritte war er
selbst und er wickelte sich auf die Einladung hin wollüstig
in die ganze Decke oder spreizte die Beine weit auseinander, legte
sich quer über das Bett oder schlug in harmloser Lust Purzelbäume
darin. Eines Tages aber, als er beim Abendscheine schon im Bette
lag, kam unverhofft noch ein fremder Geselle zugesprochen und
wurde von der Meisterin in die Schlafkammer gewiesen. Jobst lag
eben in wähligem Behagen mit dem Kopfe am Fußende und
mit den Füßen auf den Pfülmen, als der Fremde
eintrat, sein schweres Felleisen abstellte und unverweilt anfing
sich auszuziehen, da er müde war. Jobst schnellte blitzschnell
herum und streckte sich steif an seinen ursprünglichen Platz
an der Wand, und er dachte: Der wird bald wieder ausreißen,
da es Sommer ist und lieblich zu wandern! In dieser Hoffnung ergab
er sich mit stillen Seufzern in sein Schicksal und war der nächtlichen
Rippenstöße und des Streites um die Decke gewärtig,
die es nun absetzen würde. Aber wie erstaunt war er, als
der Neuangekommene, obgleich es ein Bayer war, sich mit höflichem
Gruße zu ihm ins Bett legte, sich ebenso friedlich und manierlich
wie er selbst am andern Ende des Bettes verhielt und ihn während
der ganzen Nacht nicht im mindesten belästigte. Dies unerhörte
Abenteuer brachte ihn so um alle Ruhe, daß er, während
der Bayer wohlgemut schlief, diese Nacht kein Auge zutat. Am Morgen
betrachtete er den wundersamen Schlafgefährten mit äußerst
aufmerksamen Mienen und sah, daß es ein ebenfalls nicht
mehr junger Geselle war, der sich mit anständigen Worten
nach den Umständen und dem Leben hier erkundigte, ganz in
der Weise, wie er es etwa selbst getan haben würde. Sobald
er dies nur bemerkte, hielt er an sich und verschwieg die einfachsten
Dinge wie ein großes Geheimnis, trachtete aber dagegen das
Geheimnis des Bayers zu ergründen; denn daß derselbe
ebenfalls eines besaß, war ihm von weitem anzusehen; wozu
sollte er sonst ein so verständiger, sanftmütiger und
gewiegter Mensch sein, wenn er nicht irgend etwas Heimliches,
sehr Vorteilhaftes vorhatte? Nun suchten sie sich gegenseitig
die Würmer aus der Nase zu ziehen, mit der größten
Vorsicht und Friedfertigkeit, in halben Worten und auf anmutigen
Umwegen. Keiner gab eine vernünftige klare Antwort und doch
wußte nach Verlauf einiger Stunden jeder, daß der
andere nichts mehr oder minder als sein vollkommener Doppelgänger
sei. Als im Lauf des Tages Fridolin, der Bayer, mehrmals nach
der Kammer lief und sich dort zu schaffen machte, nahm Jobst die
Gelegenheit wahr, auch einmal hinzuschleichen, als jener bei der
Arbeit saß, und durchmusterte im Fluge die Habseligkeiten
Fridolins; er entdeckte aber nichts weiter als fast die gleichen
Siebensächelchen, die er selbst besaß, bis auf die
hölzerne Nadelbüchse, welche aber hier einen Fisch vorstellte,
während Jobst scherzhafterweise ein kleines Wickelkindchen
besaß, und statt einer zerrissenen französischen Sprachlehre
für das Volk, welche Jobst bisweilen durchblätterte,
war bei dem Bayer ein gut gebundenes Büchlein zu finden,
betitelt: »Die kalte und warme Küpe, ein unentbehrliches
Handbuch für Blaufärber«. Darin war aber mit Bleistift
geschrieben: »Unterfand für die 3 Kreizer, welche ich
dem Nassauer geborgt.« Hieraus schloß er, daß
es ein Mann war, der das Seinige zusammenhielt, und spähete
unwillkürlich am Boden herum, und bald entdeckte er eine
Fliese, die ihm gerade so vorkam, als ob sie kürzlich herausgenommen
wäre, und unter derselben lag auch richtig ein Schatz in
ein altes halbes Schnupftuch und mit Zwirn umwickelt, fast ganz
so schwer wie der seinige, welcher zum Unterschied in einem zugebundenen
Socken steckte. Zitternd drückte er die Backsteinplatte wieder
zurecht, zitternd aus Aufregung und Bewunderung der fremden Größe
und aus tiefer Sorge um sein Geheimnis. Stracks lief er hinunter
in die Werkstatt und arbeitete, als ob es gälte die Welt
mit Kämmen zu versehen, und der Bayer arbeitete, als ob der
Himmel noch dazu gekämmt werden müßte. Die nächsten
acht Tage bestätigten durchaus diese erste gegenseitige Auffassung;
denn war Jobst fleißig und genügsam, so war Fridolin
tätig und enthaltsam mit den gleichen bedenklichen Seufzern
über das Schwierige solcher Tugend; war aber Jobst heiter
und weise, so zeigte sich Fridolin spaßhaft und klug; war
jener bescheiden, so war dieser demütig, jener schlau und
ironisch, dieser durchtrieben und beinahe satirisch, und machte
Jobst ein friedlich einfältiges Gesicht zu einer Sache, die
ihn ängstigte, so sah Fridolin unübertrefflich wie ein
Esel aus. Es war nicht sowohl ein Wettkampf als die Übung
wohlbewußter Meisterschaft, die sie beseelte, wobei keiner
verschmähte, sich den andern zum Vorbild zu nehmen und ihm
die feinsten Züge eines vollkommenen Lebenswandels, die ihm
etwa noch fehlten, nachzuahmen. Sie sahen sogar so einträchtig
und verständnisinnig aus, daß sie eine gemeinsame Sache
zu machen schienen, und glichen so zwei tüchtigen Helden,
die sich ritterlich vertragen und gegenseitig stählen, ehe
sie sich befehden. Aber nach kaum acht Tagen kam abermals einer
zugereist, ein Schwabe, namens Dietrich, worüber die beiden
eine stillschweigende Freude empfanden wie über einen lustigen
Maßstab, an welchem ihre stille Größe sich messen
konnte, und sie gedachten das arme Schwäbchen, welches gewiß
ein rechter Taugenichts war, in die Mitte zwischen ihre Tugenden
zu nehmen, wie zwei Löwen ein Äffchen, mit dem sie spielen.
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Aber wer beschreibt ihr Erstaunen, als der Schwabe sich geradeso
benahm wie sie selbst und sich die Erkennung, die zwischen ihnen
vorgegangen, noch einmal wiederholte zu dritt, wodurch sie nicht
nur dem Dritten gegenüber in eine unverhoffte Stellung gerieten,
sondern sie selbst unter sich in eine ganz veränderte Lage kamen.
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Schon als sie ihn im Bette zwischen sich nahmen, zeigte sich der
Schwabe als vollkommen ebenbürtig und lag wie ein Schwefelholz
so strack und ruhig, so daß immer noch ein bißchen
Raum zwischen jedem der Gesellen blieb und das Deckbett auf ihnen
lag wie ein Papier auf drei Heringen. Die Lage wurde nun ernster,
und indem alle drei gleichmäßig sich gegenüberstanden,
wie die Winkel eines gleichzeitigen Dreieckes, und kein vertrauliches
Verhältnis mehr zwischen zweien möglich war, kein Waffenstillstand
oder anmutiger Wettstreit, waren sie allen Ernstes beflissen,
einander aus dem Bett und dem Haus hinaus zu dulden. Als der Meister
sah, daß diese drei Käuze sich alles gefallen ließen,
um nur dazubleiben, brach er ihnen am Lohn ab und gab ihnen geringere
Kost; aber desto fleißiger arbeiteten sie und setzten ihn
in den Stand, große Vorräte von billigen Waren in Umlauf
zu bringen und vermehrten Bestellungen zu genügen, also daß
er ein Heidengeld durch die stillen Gesellen verdiente und eine
wahre Goldgrube an ihnen besaß. Er schnallte sich den Gurt
um einige Löcher weiter und spielte eine große Rolle
in der Stadt, während die törichten Arbeiter in der
dunklen Werkstatt Tag und Nacht sich abmühten und sich gegenseitig
hinausarbeiten wollten. Dietrich, der Schwabe, welcher der jüngste
war, erwies sich als ganz vom gleichen Holze geschnitten wie die
zwei andern, nur besaß er noch keine Ersparnis, denn er
war noch zu wenig gereist. Dies wäre ein bedenklicher Umstand
für ihn gewesen, da Jobst und Fridolin einen zu großen
Vorsprung gewannen, wenn er nicht als ein erfindungsreiches Schwäblein
eine neue Zaubermacht heraufbeschworen hätte, um den Vorteil
der andern aufzuwiegen. Da sein Gemüt nämlich von jeglicher
Leidenschaft frei war, so frei wie dasjenige seiner Nebengesellen,
außer von der Leidenschaft, gerade hier und nirgends anders
sich anzusiedeln und den Vorteil wahrzunehmen, so erfand er den
Gedanken, sich zu verlieben und um die Hand einer Person zu werben,
welche ungefähr so viel besaß als der Sachse und der
Bayer unter den Fliesen liegen hatten. Es gehörte zu den
besseren Eigentümlichkeiten der Seldwyler, daß sie
um einiger Mittel willen keine häßlichen oder unliebenswürdigen
Frauen nahmen; in große Versuchung gerieten sie ohnehin
nicht, da es in ihrer Stadt keine reichen Erbinnen gab, weder
schöne noch unschöne, und so behaupteten sie wenigstens
die Tapferkeit, auch die kleineren Brocken zu verschmähen
und sich lieber mit lustigen und hübschen Wesen zu verbinden,
mit welchen sie einige Jahre Staat machen konnten. Daher wurde
es dem ausspähenden Schwaben nicht schwer, sich den Weg zu
einer tugendhaften Jungfrau zu bahnen, welche in derselben Straße
wohnte und von der er, im klugen Gespräche mit alten Weibern,
in Erfahrung gebracht, daß sie einen Gültbrief von
siebenhundert Gulden ihr Eigentum nenne. Dies war Züs Bünzlin,
eine Tochter von achtundzwanzig Jahren, welche mit ihrer Mutter,
der Wäscherin, zusammen lebte, aber über jenes väterliche
Erbteil unbeschränkt herrschte. Sie hatte den Brief in einer
kleinen lackierten Lade liegen, wo sie auch die Zinsen davon,
ihren Taufzettel, ihren Konfirmationsschein und ein bemaltes und
vergoldetes Osterei bewahrte; ferner ein halbes Dutzend silberne
Teelöffel, ein Vaterunser mit Gold auf einen roten durchsichtigen
Glasstoff gedruckt, den sie Menschenhaut nannte, einen Kirschkern,
in welchen das Leiden Christi geschnitten war, und eine Büchse
aus durchbrochenem und mit rotem Taft unterlegten Elfenbein, in
welcher ein Spiegelchen war und ein silberner Fingerhut; ferner
war darin ein anderer Kirschkern, in welchem ein winziges Kegelspiel
klapperte, eine Nuß, worin eine kleine Muttergottes hinter
Glas lag, wenn man sie öffnete, ein silbernes Herz, worin
ein Riechschwämmchen steckte, und eine Bonbonbüchse
aus Zitronenschale, auf deren Deckel eine Erdbeere gemalt war
und in welcher eine goldene Stecknadel auf Baumwolle lag, die
ein Vergißmeinnicht vorstellte, und ein Medaillon mit einem
Monument von Haaren; ferner ein Bündel vergilbter Papiere
mit Rezepten und Geheimnissen, ein Fläschchen mit Hoffmannstropfen,
ein anders mit Kölnischem Wasser und eine Büchse mit
Moschus; eine andere, worin ein Endchen Marderdreck lag, und ein
Körbchen, aus wohlriechenden Halmen geflochten, sowie eines
aus Glasperlen und Gewürznägelein zusammengesetzt; endlich
ein kleines Buch, in himmelblaues geripptes Papier gebunden, mit
silbernem Schnitt, betitelt: Goldene Lebensregeln für die
Jungfrau als Braut, Gattin und Mutter; und ein Traumbüchlein,
ein Briefsteller, fünf oder sechs Liebesbriefe und ein Schnepper
zum Aderlassen; denn einst hatte sie ein Verhältnis mit einem
Barbiergesellen oder Chirurgiegehilfen gepflogen, welchen sie
zu ehelichen gedachte; und da sie eine geschickte und überaus
verständige Person war, so hatte sie von ihrem Liebhaber
gelernt, die Ader zu schlagen, Blutigel und Schröpfköpfe
anzusetzen und dergleichen mehr, und konnte ihn selbst sogar schon
rasieren. Allein er hatte sich als ein unwürdiger Mensch
gezeigt, bei welchem leichtlich ihr ganzes Lebensglück aufs
Spiel gesetzt war, und so hatte sie mit trauriger, aber weiser
Entschlossenheit das Verhältnis gelöst. Die Geschenke
wurden von beiden Seiten zurückgegeben mit Ausnahme des Schneppers;
diesen vorenthielt sie als Unterpfand für einen Gulden und
achtundvierzig Kreuzer, welche sie ihm einst bar geliehen; der
Unwürdige behauptete aber, solche nicht schuldig zu sein,
da sie das Geld ihm bei Gelegenheit eines Balles in die Hand gegeben,
um die Auslagen zu bestreiten, und sie hätte zweimal soviel
verzehrt als er. So behielt er den Gulden und die achtundvierzig
Kreuzer und sie den Schnepper, mit welchem sie unter der Hand
allen Frauen ihrer Bekanntschaft Ader ließ und manchen schönen
Batzen verdiente. Aber jedesmal, wenn sie das Instrument gebrauchte,
mußte sie mit Schmerzen der niedrigen Gesinnungsart dessen
gedenken, der ihr so nahe gestanden und beinahe ihr Gemahl geworden
wäre!