Zweiter Akt.

Zimmer im Hause des Tischlermeisters.

Erste Scene.

Meister Anton (steht vom Tisch auf).
Klara (will abräumen).

Meister Anton.
Willst Du wieder nicht essen?

Klara.
Vater, ich bin satt.

Meister Anton.
Von Nichts?

Klara.
Ich aß schon in der Küche.

Meister Anton.
Wer keinen Appetit hat, der hat kein gut Gewissen! Nun, Alles wird sich finden! Oder war Gift in der Suppe, wie ich gestern träumte? Einiger wilder Schierling140, aus Versehen beim Pflücken in's Kräuterbündel hinein gerathen? Dann tatst Du klug!

Klara.
Allmächtiger Gott!

Meister Anton.
Vergieb mir, ich - Geh zum Teufel mit Deiner blaßen Leidensmiene141, die Du der Mutter des Heilands gestohlen hast! Roth soll man aussehen, wenn man jung ist! Nur Einer darf Staat machen mit einem solchen Gesicht, und der thut's nicht! Hei! Jedem eine Ohrfeige142, der noch Au sagt, wenn er sich in den Finger geschnitten hat! Dazu hat Keiner das Recht mehr, denn hier steht ein Mann, der - Eigenlob143stinkt, aber was that ich, als der Nachbar über Deiner Mutter den Sargdeckel zunageln wollte?

Klara.
Er riß ihm den Hammer weg und that's selbst, und sprach: dies ist mein Meisterstück! Der Kantor, der eben mit den Chorknaben vor der Thür das Sterbelied absang, meinte, Er sei verrückt144 geworden!

Meister Anton.
Verrückt! (lacht) Verrückt! Ja, ja, das ist ein kluger Kopf, der sich selbst köpft, wenn's Zeit ist. Der meinige muß dazu zu fest stehen, sonst - Man hockte in der Welt, und glaubte in einer guten Herberge146 hinter'm Ofen zu sitzen, da wird plötzlich Licht auf den Tisch gestellt, und siehe da, man ist in einem Räuberloch147, nun geht's piff, paff, von allen Seiten, aber es schadet nicht, man hat zum Glück ein steinernes Herz!

Klara.
Ja, Vater, so ist's!

Meister Anton.
Was weißt Du davon? Meinst Du, Du hast ein Recht, mit mir zu fluchen, weil Dein Schreiber davon gelaufen ist? Dich wird ein Anderer Sonntags-Nachmittags spatzieren führen, ein Anderer wird Dir sagen, daß Deine Backen roth sind und Deine Augen blau, ein Anderer wird dich zum Weibe nehmen, wenn Du's verdienst. Aber, wenn Du nun dreißig Jahre lang in Züchten und Ehren die Last des Lebens getragen, wenn Du nie gemurrt, sondern Leid und Tod und jedes Mißgeschick in Geduld hingenommen hast, und dann kommt Dein Sohn, der Dir für Dein Alter ein weiches Kopfkissen stopfen sollte, und überhäuft Dich so mit Schande, daß Du die Erde anrufen mögtest: verschlucke mich, wenn Dich nicht ekelt148, denn ich bin kothiger, als Du! - dann magst Du all' die Flüche, die ich in meiner Brust zurückhalte, aussprechen, dann magst Du Dein Haar raufen und Deine Brüste zerschlagen, das sollst Du vor mir voraus haben, denn Du bist kein Mann!

Klara.
O Karl!

Meister Anton.
Wundern soll mich's doch, was ich thun werde, wenn ich ihn wieder vor mir sehe, wenn er Abends vor Lichtanzünden mit geschorenem149 Kopf, denn im Zuchthaus148 sind die Frisuren nicht erlaubt, in die Stube tritt und einen guten Abend herausstottert und die Klinke der Thür in der Hand behält. Thun werd' ich etwas, das ist gewiß, aber was? (mit Zähneknirschen) Und ob sie ihn zehn Jahre behalten, er wird mich finden, ich werde so lange leben, das weiß ich, merk' Dir's, Tod, ich bin von jetzt an ein Stein vor Deiner Hippe150, sie wird eher zerspringen, als mich aus der Stelle rücken!

Klara. (faßt seine Hand)
Vater, Er sollte sich eine halbe Stunde niederlegen!

Meister Anton.
Um zu träumen, daß Du in die Wochen gekommen151 seyst? Um dann aufzufahren, und Dich zu packen, und mich hintendrein zu besinnen und zu sprechen: liebe Tochter, ich wußte nicht, was ich that! Ich danke. Mein Schlaf hat den Gaukler152 verabschiedet und einen Propheten in Dienst genommen, der zeigt mir mit seinem Blutfinger153 häßliche Dinge, und ich weiß nicht, wie's kommt, Alles scheint mir jetzt möglich. Hu, mich schaudert's vor der Zukunft, wie vor einem Glas Wasser, das man durch's Microscop - ist's richtig, Herr Cantor? Er hat mir's oft genug vorbuchstabirt! - betrachtet hat. Ich thats einmal in Nürnberg auf der Messe, und mogte den ganzen Tag nicht mehr trinken! Den lieben Karl sah ich in der letzten Nacht mit einer Pistole in der Hand, als ich den Schützen näher in's Auge faßte, drückte er ab, ich hörte einen Schrei, aber vor Pulverdampf konnt' ich nichts sehen, auch als der Dampf sich verzog, erblickte ich keinen zerschmetterten154 Schädel155 , aber mein Herr Sohn war inzwischen ein reicher Mann geworden, er stand und zählte Goldstücke von einer Hand in die andere, und er hatte ein Gesicht - hol mich der Teufel, man kann's nicht ruhiger haben, wenn man den ganzen Tag arbeitete und nun die Werkstatt hinter sich abschließt. Nun davor könnte man aufpassen! Man könnte Gericht halten und sich nachher selbst vor den höchsten Richter stellen.

Klara.
Werd' Er doch wieder ruhig!

Meister Anton.
Werd' Er doch wieder gesund! Warum ist Er krank! Ja, Arzt, reich' mir nur den Trank der Genesung156! Dein Bruder ist der schlechteste Sohn, werde Du die beste Tochter! Wie ein nichtswürdiger Bankerottier157 steh' ich vor dem Angesicht der Welt, einen braven Mann, der in die Stelle dieses Invaliden treten könne, war ich ihr schuldig, mit einem Schelm hab' ich sie betrogen. Werde Du ein Weib, wie Deine Mutter war, dann wird man sprechen: an den Eltern hat's nicht gelegen, daß der Bube abseits ging, denn die Tochter wandelt den rechten Weg, und ist allen Andern vorauf. (mit schrecklicher Kälte) Und ich will das Meinige dazu thun, ich will Dir die Sache leichter machen, als den Uebrigen. In dem Augenblick, wo ich bemerke, daß man auch auf Dich mit Fingern zeigt, werd' ich - (mit einer Bewegung an den Hals) mich rasiren, und dann, das schwör' ich Dir zu, rasir' ich den ganzen Kerl weg, Du kannst sagen, es sei aus Schreck geschehen, weil auf der Straße ein Pferd durchging, oder weil die Katze auf dem Boden einen Stuhl umwarf, oder weil mir eine Maus an den Beinen hinauflief. Wer mich kennt, wird freilich den Kopf dazu schütteln, denn ich bin nicht sonderlich schreckhaft158, aber was thut's? Ich kann's in einer Welt nicht aushalten, wo die Leute mitleidig seyn müßten, wenn sie nicht vor mir ausspucken sollen.

Klara.
Bannherziger Gott, was soll ich thun!

Meister Anton.
Nichts, Nichts, liebes Kind, ich bin zu hart gegen Dich, ich fühl's wohl, Nichts, bleib nur, was Du bist, dann ist's gut! O, ich hab' so groß Unrecht erlitten, daß ich Unrecht thun muß, um nicht zu erliegen, wenn's mich so recht anfaßt. Sieh, ich gehe vorhin über die Straße, da kommt der Pocken-Fritz daher, der Gaudieb, den ich vor Jahren in's Loch stecken ließ, weil er zum dritten Mal lange Finger159 bei mir gemacht hatte. Früher wagte der Halunke nicht, mich anzusehen, jetzt trat er frech auf mich zu und reichte mir die Hand. Ich wollte ihm einen hinter die Ohren geben, aber ich besann mich und spuckte nicht einmal aus, wir sind ja Vettern seit 8 Tagen, und es ist billig, daß Verwandte sich grüßen. Der Pfarrer, der mitleidige Mann, der mich gestern besuchte, meinte zwar, ein Mensch habe Niemanden zu vertreten, als sich selbst, und es sey ein unchristlicher Hochmut160 von mir, daß ich auch noch für meinen Sohn aufkommen wolle; sonst müßte Adam es sich so gut zu Gemüthe ziehen, wie ich. Herr, ich glaub's gern, daß es den Frieden des Erzvaters im Paradiese nicht mehr stört, wenn Einer seiner Ur-Ur-Enkel zu morden oder zu rauben anfängt, aber raufte er sich nicht die Haare über Kain? Nein, nein, es ist zu viel! Ich könnte mich zuweilen nach meinem Schatten umsehen, ob er nicht schwärzer geworden ist! Denn Alles, Alles kann ich ertragen und hab's bewiesen, nur nicht die Schande! Legt mir auf den Nacken, was ihr wollt, nur schneidet nicht den Nerv durch, der mich zusammen hält!

Klara.
Vater, noch hat Karl ja nichts gestanden, und sie haben auch nichts bei ihm gefunden.

Meister Anton.
Was soll mir das? Ich bin in der Stadt herumgegangen und habe mich in den Schenken nach seinen Schulden erkundigt, da kam mehr zusammen, als er im nächsten Vierteljahr bei mir verdient hätte, und wenn er noch dreimal so fleißig wäre, als er ist. Nun weiß ich, warum er immer zwei Stunden später Feierabend161 machte, als ich, und warum er trotzdem auch noch vor mir aufstand, aber er sah ein, daß dies Alles doch Nichts half, oder es war ihm zu mühevoll und dauerte ihm zu lange, da griff er zu, als die Gelegenheit sich bot.

Klara.
Er glaubt von Karl immer das Schlimmste, Er hat es stets gethan! Weiß Er wohl noch, wie -

Meister Anton.
Du sprichst, wie Deine Mutter sprechen würde, ich will Dir antworten, wie ich ihr zu antworten pflegte, ich will stillschweigen!

Klara.
Und wenn Karl doch freigesprochen162 wird? Wenn die Juwelen sich wieder finden?

Meister Anton.
Dann würd' ich einen Advocaten annehmen, und mein letztes Hemd daran setzen, um zu erfahren, ob der Bürgermeister den Sohn eines ehrlichen Mannes mit Recht in's Gefängniß warf, oder nicht. Wär' es, so würd ich mich beugen, denn was jedem widerfahren kann, das muß auch ich mir gefallen lassen, und mußte ich es zu meinem Unglück auch tausend Mal theurer bezahlen, als Andere, es war ein Schicksal, und wenn Gott mich schlägt, so falte ich die Hände, und spreche: Herr, Du weißt warum! Wär' es aber nicht, hätte der Mann mit der goldenen Kette um den Hals sich übereilt, weil er an Nichts dachte, als daran, daß der Kaufmann, der die Juwelen vermißt, sein Schwager ist, so würde sich's finden, ob das Gesetzbuch ein Loch hat, und ob der König, der wohl weiß, daß er seinen Untertanen163 ihre Treu' und ihren Gehorsam mit Gerechtigkeit bezahlen muß, und der dem Geringsten unter ihnen gewiß am wenigsten etwas schuldig bleiben will, dies Loch ungestopft ließe. Aber, das sind unnütze Reden! Der Junge wird so wenig rein aus diesem Prozeß hervorgehen, wie Deine Mutter lebendig aus ihrer Gruft. Von dem kommt mir nun und nimmer ein Trost, darum vergiß Du nicht, was Du mir schuldig bist, halte Du Deinen Schwur164, damit ich den meinigen nicht zu halten brauche! (er geht, kehrt aber wieder um) Ich komme heut Abend erst spät zu Hause, ich gehe zu dem alten Holzhändler in's Gebirge. Das ist der einzige Mann, der mir noch, wie sonst, in die Augen sieht, weil er noch nicht von meiner Schande weiß. Er ist taub, Keiner kann ihm was erzählen, ohne sich heiser zu schreien, und auch dann hört er Alles verkehrt, darum erfährt er Nichts. (ab)

Zweite Scene.

Klara. (allein)
O Gott, o Gott! Erbarme Dich165! Erbarme Dich über den alten Mann! Nimm mich zu Dir! Ihm ist nicht anders zu helfen! Sieh, der Sonnenschein liegt so goldig auf der Straße, daß die Kinder mit Händen nach ihm greifen, die Vögel fliegen hin und her, Blumen und Kräuter werden nicht müde, in die Höhe zu wachsen. Alles lebt, Alles will leben, Tausend Kranke zittern166 in dieser Stunde vor Dir, o Tod, wer Dich in der beklommenen Nacht noch rief, weil er seine Schmerzen nicht mehr ertragen konnte, der findet sein Lager jetzt wieder sanft und weich, ich rufe Dich! Verschone den, dessen Seele sich am tiefsten vor Dir wegkrümmt, laß ihm so lange Frist, bis die schöne Welt wieder grau und öde167 wird, nimm mich für ihn! Ich will nicht schaudern, wenn Du mir Deine kalte Hand reichst, ich will sie muthig fassen und Dir freudiger folgen, als Dir noch je ein Menschenkind gefolgt ist.

Dritte Scene.

Der Kaufmann Wolfram. (tritt ein)
Guten Tag, Jungfer Klara, ist Ihr Vater nicht zu Hause?

Klara.
Er ist eben fortgegangen.

Wolfram.
Ich komme - - meine Juwelen haben sich wiedergefunden.

Klara.
O Vater, wärst Du da! Er hat seine Brille vergessen, dort liegt sie! Daß er's bemerkte und umkehrte! Wie denn? Wo? - Bei wem?

Wolfram.
Meine Frau - Sag' Sie mir aufrichtig, Jungfer, hat Sie nicht auch schon etwas Wunderliches über meine Frau gehört?

Klara.
Ja!

Wolfram.
Daß sie - (er deutet auf die Stirn) Nicht wahr?

Klara.
Daß sie nicht recht bei sich ist, freilich!

Wolfram. (ausbrechend)
Mein Gott! Mein Gott! Alles umsonst! Keinen Dienstboten168 , den ich einmal in mein Haus nahm, hab' ich wieder von mir gelassen, jedem habe ich doppelten Lohn169 gegeben und zu allen Nachlässigkeiten die Augen zugedrückt, um mir ihr Stillschweigen zu erkaufen, dennoch - die falschen, undankbaren Creaturen! O meine armen Kinder! Bloß Euretwegen suchte ich's zu verbergen!

Klara.
Schelt' Er Seine Leute nicht! Die sind gewiß unschuldig! Seit das Nachbarhaus abbrannte, und Seine Frau aus dem geöffneten Fenster dazu lachte und in die Hände klatschte, ja sogar mit vollen Backen in's Feuer hinüber blies, als wollte sie es noch mehr anfachen, seitdem hatte man nur die Wahl, ob man sie für einen Teufel, oder für eine Verrückte halten wollte. Und das haben Hunderte gesehen.

Wolfram.
Es ist wahr. Nun, da die ganze Stadt mein Unglück kennt, so wäre es töricht170, wenn ich Ihr das Versprechen abfordern wollte, es zu verschweigen. Höre Sie denn! Den Diebstahl, wegen dessen Ihr Bruder im Gefängniß sitzt, hat der Wahnsinn begangen!

Klara.
Seine eig'ne Frau -

Wolfram.
Daß sie, die früher die edelste, mitleidigste Seele von der Welt war, boshaft und schadenfroh171 geworden ist, daß sie jauchzt und jubelt, wenn vor ihren Augen ein Unglück geschieht, wenn die Magd ein Glas zerbricht, oder sich in den Finger schneidet, wußte ich längst; daß sie aber auch Sachen im Hause auf die Seite bringt, Geld versteckt, Papiere zerreißt, das habe ich leider zu spät erfahren, erst heute Mittag. Ich hatte mich aufs Bett gelegt und wollte eben einschlafen, da bemerkte ich, daß sie sich mir leise näherte und mich scharf betrachtete, ob ich schon schliefe. Ich schloß die Augen fester, da nahm sie aus meiner über den Stuhl gehängten Weste den Schlüssel, öffnete den Secretair, griff nach einer Goldrolle172, schloß wieder zu und trug den Schlüssel zurück. Ich entsetzte mich, doch ich hielt an mich, um sie nicht zu stören, sie verließ das Zimmer, ich schlich ihr auf den Zehen nach. Sie stieg zum obersten Boden hinauf und warf die Goldrolle in eine alte Kiste hinein, die noch vom Großvater her leer da steht, dann sah sie sich scheu nach allen Seiten um und eilte, ohne mich zu bemerken, wieder fort. Ich zündete einen Wachsstock173 an und durchsuchte die Kiste, da fand ich die Spielpuppe meiner jüngsten Tochter, ein Paar Pantoffeln der Magd, ein Handlungsbuch, Briefe und leider, oder Gott Lob, wie soll ich sagen, ganz unten auch die Juwelen!

Klara.
O meine arme Mutter! Es ist doch zu schändlich!

Wolfram.
Gott weiß, ich würde den Schmuck darum geben, könnt' ich ungeschehen machen, was geschehen ist! Aber nicht ich bin Schuld! Daß mein Verdacht, bei aller Achtung vor Ihrem Vater, auf Ihren Bruder fiel, war natürlich, er hatte den Secretair polirt, und mit ihm waren die Juwelen verschwunden, ich bemerkte es fast augenblicklich, denn ich mußte aus dem Fach, worin sie lagen, Papiere herausnehmen. Doch es fiel mir nicht ein, gleich strenge Maßregeln174 gegen ihn zu ergreifen, ich theilte die Sache nur vorläufig dem Gerichtsdiener Adam mit und ersuchte ihn, ganz in der Stille Nachforschungen175 anzustellen, aber dieser wollte von keiner Schonung176 wissen, er erklärte mir, er müsse und werde den Fall auf der Stelle anzeigen, denn Ihr Bruder sey ein Säufer und Schuldenmacher, und er gilt bei dem Bürgermeister leider so viel, daß er durchsetzen kann, was er will. Der Mann scheint bis aufs Aeußerste gegen Ihren Vater aufgebracht zu seyn, ich weiß nicht, warum, es war nicht möglich, ihn zu beschwichtigen, er hielt sich die Ohren zu, und rief, als er fortrannte: wenn Er mir den Schmuck geschenkt hätte, ich wäre nicht so vergnügt177, wie jetzt!

Klara.
Der Gerichtsdiener hat im Wirthshaus einmal sein Glas neben das meines Vaters auf den Tisch gestellt und ihm dabei zugenickt, als ob er ihn zum Anstoßen auffordern wolle. Da hat mein Vater das seinige weggenommen und gesagt: Leute im rothen Rock mit blauen Aufschlägen mußten ehemals aus Gläsern mit hölzernen Füßen trinken, auch mußten sie draußen vor dem Fenster, oder, wenn's regnete, vor der Thür stehen bleiben und bescheiden den Hut abziehen, wenn der Wirth ihnen den Trunk reichte; wenn sie aber ein Gelüsten178 trugen, mit jemandem anzustoßen, so warteten sie, bis der Gevatter Fallmeister179 vorüber kam. Gott! Gott! Was ist Alles möglich auf der Welt! Das hat meine Mutter mit einem jähen180 Tode bezahlen müssen!

Wolfram.
Man soll Keinen reizen181 und die Schlimmen am wenigsten! Wo ist Ihr Vater?

Klara.
Im Gebirg beim Holzhändler.

Wolfram.
Ich reite hinaus und such' ihn auf. Beim Bürgermeister war ich schon, leider traf ich ihn nicht daheim, sonst würde Ihr Bruder schon hier seyn, aber der Secretair hat sogleich einen Boten abgefertigt, Sie wird ihn noch vor Abend sehen. (ab)

Vierte Scene.

Klara. (allein)
Nun sollt' ich mich freuen! Gott, Gott! Und ich kann Nichts denken, als: nun bist Du's allein! Und doch ist mir zumut182, als müsse mir gleich etwas einfallen, das Alles wieder gut macht!

Fünfte Scene.

Der Secretair. (tritt ein)
Guten Tag!

Klara. (hält sich an einem Stuhl, als sollte sie umfallen)
Der! O, wenn der nicht zurückgekommen wäre -

Secretair.
Der Vater ist nicht zu Hause?

Klara.
Nein!

Secretair.
Ich bringe eine fröhliche Botschaft. Ihr Bruder - Nein, Klara, ich kann in diesem Ton nicht mit Dir reden, mir däucht, Tische, Stühle, Schränke, all' die alten Bekannten, - Guten Tag Du! (er nickt einem Schrank zu) Wie gehts? Du hast Dich nicht verändert! - um die wir als Kinder so oft herumgehüpft sind, werden die Köpfe zusammenstecken, und den Narren ausspotten, wenn ich nicht schnell einen anderen anschlage. Ich muß Du zu Dir sagen, wie ehemals, wenn's Dir nicht gefällt, so denke: der große Junge träumt, ich will ihn aufwecken und vor ihn hintreten und mich (mit Geberden) hoch aufrichten, damit er sieht, daß er kein kleines Kind mehr vor sich hat, - das war Dein Maaß im elften Jahr! (er deutet auf einen Schrammstrich in der Thür) - sondern ein gehörig erwachsenes Mädchen, das den Zucker auch dann erreichen kann, wenn er auf den Schrank gestellt wird. Du weißt doch noch? Das war der Platz, die feste Burg, wo er auch unverschlossen vor uns sicher war. Wir vertrieben uns, wenn er dort stand, die Zeit gewöhnlich mit Fliegenklatschen183, weil wir den Fliegen, die lustig ab- und zuflogen, das unmöglich gönnen konnten, was wir selbst nicht zu erlangen wußten.

Klara.
Ich dächte, man vergäße solche Dinge, wenn man hundert und tausend Bücher durchstudiren müßte.

Secretair.
Man vergißt's auch! Freilich, was vergißt man nicht über Justinian und Gajus! Die Knaben, die sich so hartnäckig gegen das A. B. C. wehren, wissen wohl, warum; sie haben eine Ahnung davon, daß, wenn sie sich nur mit der Fibel184 nicht einlassen, sie mit der Bibel nie Händel bekommen können! Aber schändlich genug, man verführt die unschuldigen Seelen, man zeigt ihnen hinten den rothen Hahn mit dem Korb voll Eier, da sagen sie von selbst: Ah! und nun ist kein Haltens mehr, nun geht's reißend schnell bergunter bis zum Z., und so weiter und weiter, bis sie auf einmal mitten im Corpus juris sind und mit Grausen185 innewerden186, in welche Wildniß die verfluchten 24 Buchstaben, die sich Anfangs im lustigen Tanz nur zu wohlschmeckenden und wohlriechenden Worten, wie Kirsche und Rose zusammenstellten, sie hineingelockt haben!

Klara.
Und wie wird's dann gemacht? (abwesend, ohne allen Antheil)

Secretair.
Darin sind die Temperamente verschieden. Einige arbeiten sich durch. Die kommen gewöhnlich in drei bis vier Jahren wieder an's Tagslicht, sind darin aber etwas mager und blaß, das muß man ihnen nicht übel nehmen. Zu diesen gehöre ich. Andere legen sich in der Mitte des Waldes nieder, sie wollen bloß ausruhen, aber sie stehen selten wieder auf. Ich habe selbst einen Bekannten, der nun schon drei Jahre im Schatten der Lex Julia sein Bier trinkt, er hat sich den Platz des Namens wegen ausgesucht, der ruft ihm angenehme Erinnerungen zurück. Noch Andere werden desparat und kehren um. Die sind die Dümmsten, denn man läßt sie nur unter der Bedingung aus dem einen Dickicht187 heraus, daß sie sich spornstreichs188 wieder in ein anderes hinein begeben. Und da giebt's einige, die noch schrecklicher sind, die gar kein Ende haben! (für sich) Was man Alles schwätzt, wenn man Etwas auf dem Herzen hat, und es nicht heraus zu bringen weiß!

Klara.
Alles ist heute lustig und munter, das macht der schöne Tag!

Secretair.
Ja, bei solchem Wetter fallen die Eulen aus dem Nest, die Fledermäuse189 bringen sich um, weil sie fühlen, daß der Teufel sie gemacht hat, der Maulwurf bohrt sich so tief in die Erde ein, daß er den Weg zurück nicht mehr findet und jämmerlich ersticken muß, wenn er sich nicht bis zur anderen Seite durchfrißt und in Amerika wieder zum Vorschein kommt. Heute thut jede Kornähre190 einen doppelten Schuß, und jede Mohnblume191 wird noch einmal so roth, wie sonst, wenn auch nur aus Schaam, daß sie's noch nicht ist. Soll der Mensch zurückbleiben? Soll er den lieben Gott um den einzigen Zins betrügen, den seine Welt ihm abwirft, um ein fröhlich Gesicht und um ein helles Auge, das all die Herrlichkeit abspiegelt und verklärt zurück giebt? Wahrhaftig, wenn ich des Morgens diesen oder jenen Hocker aus seiner Thür hervorschleichen sehe, die Stirn in Falten herausgezogen und den Himmel anglotzend, wie einen Bogen Löschpapier192, dann denk' ich oft: es giebt gleich Regen, Gott muß, er kann nicht umhin, den Wolken-Vorhang niederlassen, um sich nur über die Fratze nicht zu ärgern. Man sollte die Kerl's als Hintertreiber193 von Lustpartien194, als Verderber195 des Erntewetters, vor Gericht belangen können. Wodurch willst Du denn für das Leben danken, als dadurch, daß Du lebst? Jauchze Vogel, sonst verdienst du die Kehle nicht!

Klara.
Ach, das ist so wahr, so wahr - ich könnte gleich zu weinen anfangen!

Secretair.
Es ist nicht gegen Dich gesagt, daß Du seit acht Tagen schwerer athmest, wie sonst, begreif' ich wohl, ich kenne Deinen Alten. Aber Gott Lob, ich kann Deine Brust wieder frei machen, und eben darum bin ich hier. Du wirst Deinen Bruder noch heut Abend wieder sehen, und nicht auf ihn, sondern auf die Leute, die ihn in's Gefängniß geworfen haben, wird man mit Fingern zeigen. Verdient das einen Kuß, einen schwesterlichen, wenn's denn kein anderer seyn darf? Oder wollen wir Blindekuh196 darum spielen? Wenn ich Dich nicht in zehn Minuten hasche, so geh' ich leer aus, und bekomm' noch einen Backenstreich obendrein.

Klara. (für sich)
Mir ist, als wär' ich auf einmal tausend Jahr alt geworden, und nun stünde die Zeit über mir still, ich kann nicht zurück und auch nicht vorwärts. O, dieser festgenagelte197 Sonnenschein und all die Heiterkeit um mich her!

Secretair.
Du antwortest mir nicht. Freilich, das vergaß ich, Du bist Braut198! O Mädchen, warum hast Du mir das gethan! Und doch - habe ich ein Recht, mich zu beklagen? Sie ist, wie alles Liebe und Gute, alles Liebe und Gute hätte mich an sie erinnern sollen, dennoch war sie jahrelang für mich, wie nicht mehr in der Welt. Dafür hat sie - Wär's nur wenigstens ein Kerl, vor dem man die Augen niederschlagen müßte! Aber dieser Leonhard -

Klara. (plötzliche wie sie den Namen hört)
Ich muß zu ihm - Das ist's ja, ich bin nicht mehr die Schwester eines Diebes - o Gott, was will ich denn noch? Leonhard wird und muß - Er braucht ja bloß kein Teufel zu seyn, und Alles ist, wie vorher! (schaudernd) Wie vorher! (zum Secretair) Nimm's nicht übel, Friedrich! Warum werden mir die Beine auf einmal so schwer!

Secretair.
Du willst -

Klara.
Zu Leonhard, wohin denn sonst! Nur den einen Weg hab' ich auf dieser Welt noch zu machen!

Secretair.
So liebst Du ihn? Dann -

Klara. (wild)
Lieben? Er oder der Tod! Wundert's wen, daß ich ihn wähle? Ich thät's nicht, dächt' ich an mich allein!

Secretair.
Er oder der Tod? Mädchen, so spricht die Verzweiflung199, oder -

Klara.
Mach' mich nicht rasend200! Nenne das Wort nicht mehr! Dich! Dich lieb' ich! Da! Da! Ich ruf's Dir zu, als ob ich schon jenseits des Grabes wandelte, wo Niemand mehr roth wird, wo sie Alle nackt und frierend an einander vorbeischleichen201, weil Gottes furchtbar heilige Nähe in jedem den Gedanken an die Anderen bis auf die Wurzel weggezehrt hat!

Secretair.
Mich? Noch immer mich? Klara, ich hab's geahnt, als ich Dich draußen im Garten sah!

Klara.
Hast Du? O, der Andere auch! (dumpf, ab ob sie allein wäre) Und er trat vor mich hin! Er oder Ich! O, mein Herz, mein verfluchtes202 Herz! Um ihm, um mir selbst zu beweisen, daß es nicht so sey, oder um's zu ersticken, wenn's so wäre, that ich, was mich jetzt - (in Thränen ausbrechend) Gott im Himmel, ich würde mich erbarmen, wenn ich Du wäre, und Du ich!

Secretair.
Klara, werde mein Weib! Ich kam zu Dir, um Dir noch einmal auf die alte Weise in's Auge zu sehen. Hättest Du den Blick nicht verstanden, ich würde mich, ohne zu reden, wieder entfernt haben. Jetzt biet' ich Dir Alles an, was ich bin, und was ich habe. Es ist wenig, aber es kann mehr werden. Längst wäre ich hier gewesen, doch Deine Mutter war krank, dann starb sie.

Klara. (lacht wahnsinnig)

Secretair.
Fasse Muth, Mädchen. Der Mensch hat Dein Wort. Das ängstigt Dich. Und freilich ist's verflucht. Wie konntest Du -

Klara.
O frag' noch, was Alles zusammen kommt, um ein armes Mädchen verrückt zu machen. Spott und Hohn von allen Seiten, als Du auf die Academie gezogen warst und Nichts mehr von Dir hören ließest. Die denkt noch an den! - Die glaubt, daß Kindereien ernsthaft gemeint waren! - Erhält sie Briefe? - Und dann die Mutter! Halte Dich zu Deines Gleichen! Hochmuth thut nimmer gut! Der Leonhard ist doch recht brav, Alle wundern sich, daß Du ihn über die Achsel ansiehst. Dazu mein eignes Herz. Hat er Dich vergessen, zeig' ihm, daß auch Du - o Gott!

Secretair.
Ich bin Schuld. Ich fühl's. Nun, was schwer ist, ist darum nicht unmöglich. Ich schaff' Dir Dein Wort zurück. Vielleicht -

Klara.
O, mein Wort - da! (sie wirft ihm Leonhards Brief hin)

Secretair. (liest)
Ich als Cassirer - Dein Bruder - Dieb - sehr leid - aber ich kann nicht umhin, aus Rücksicht auf mein Amt - (zu Klara) Das schrieb er Dir denselben Tag, wo Deine Mutter starb? Er bezeugt Dir ja zugleich sein Beileid über ihren jähen Tod!

Klara.
Ich glaube, ja!

Secretair.
Daß Dich! Lieber Gott, die Katzen, Schlangen und sonstigen Scheusale203, die Dir bei der Schöpfung so zwischen den Fingern durchgeschlüpft sind, haben Beelzebubs Wohlgefallen erregt, er hat sie Dir nachgemacht, aber er hat sie besser herausgeputzt, wie Du, er hat sie in Menschenhaut gesteckt, und nun stehen sie mit Deinen Menschen in Reih und Glied und man erkennt sie erst, wenn sie kratzen und stechen! (zu Klara) Aber es ist ja gut, es ist ja vortrefflich204! (er will sie umarmen) Komm! Für ewig! Mit diesem Kuß -

Klara. (sinkt an ihn)
Nein, nicht für ewig, nur daß ich nicht umfalle, aber keinen Kuß!

Secretair.
Mädchen, Du liebst ihn nicht, Du hast Dein Wort zurück -

Klara. (dumpf, sich wieder aufrichtend)
Und ich muß doch zu ihm, ich muß mich auf Knieen vor ihm niederwerfen und stammeln205: sieh die weißen Haare meines Vaters an, nimm mich!

Secretair.
Unglückliche, versteh' ich Dich?

Klara.
Ja!

Secretair.
Darüber kann kein Mann weg! Vor dem Kerl, dem man in's Gesicht spucken206 mögte, die Augen niederschlagen müssen? (er preßt Klara wild an sich) Aermste! Aermste!

Klara.
Geh' nun, geh!

Secretair. (für sich, brütend)
Oder man müßte den Hund, der's weiß, aus der Welt wegschießen! Daß er Muth hätte! Daß er sich stellte! Daß man ihn zwingen könnte! Um's Treffen wär' mir nicht bange!

Klara.
Ich bitte Dich!

Secretair. (indem er geht)
Wenn's dunkel wird! (er kehrt wieder um und faßt Klaras Hand) Mädchen, Du stehst vor mir - - (er wendet sich ab) Tausende ihres Geschlechts hätten's klug und listig207 verschwiegen, und es erst dem Mann in einer Stunde süßer Vergessenheit in Ohr und Seele geschmeichelt208! Ich fühle, was ich Dir schuldig bin! (ab)

Sechste Scene.

Klara. (allein)
Zu! Zu, mein Herz! Quetsch' Dich in Dich ein, daß auch kein Blutstropfe209 mehr heraus kann, der in den Adern das gefrierende Leben wieder entzünden will. Da hatte sich wieder was, wie eine Hoffnung in Dir aufgethan! Jetzt erst merk' ich's! (lächelnd) Nein, darüber kann kein Mann weg! Und wenn - Könntest Du selbst darüber hinweg? Hättest Du den Muth eine Hand zu fassen, die - Nein, nein, diesen schlechten Muth hättest Du nicht! Du müßtest Dich selbst einriegeln in Deine Hülle, wenn man Dir von außen die Thür öffnen wollte - Du bist für ewig - O, daß das aussetzt, daß das nicht immer so fortbohrt, daß zuweilen ein Aufhören ist! Nur darum dauert's lange! Der Gequälte glaubt auszuruhen, weil der Quäler einhalten muß, um Odem zu schöpfen; es ist ein Aufathmen, wie des Ertrinkenden auf den Wellen, wenn der Strudel, der ihn hinunterzieht, ihn noch einmal wieder ausspeit, um ihn gleich wieder auf's Neue zu fassen, er hat Nichts davon, als den zwiefachen Todeskampf! Nun, Klara? Ja, Vater, ich gehe, ich gehe! Deine Tochter wird Dich nicht zum Selbstmord treiben! Ich bin bald das Weib des Menschen, oder - Gott, nein! Ich bettle ja nicht um ein Glück, ich bettle um mein Elend, um mein tiefstes Elend - mein Elend wirst Du mir geben! Fort - wo ist der Brief? (sie nimmt ihn) Drei Brunnen triffst Du auf dem Weg zu ihm - Daß du mir an Keinem stehen bleibst! Noch hast Du nicht das Recht dazu! (ab)

Study Questions, Act 2